Spinnefeind
Sender und Empfänger ein Codewort verabreden konnten. Sie tippte Valentes Nummer. Er meldete sich sofort. Im Hintergrund dröhnte eine schrille Musik, die an Geisterbeschwörungen erinnerte.
»Katinka hier. Valente, ich habe noch eine wichtige Frage zur Kryptoan alyse. Kannst du reden?«
»Moment.« Er stellte die Musik ab. »So. Jetzt. Was willst du denn wissen?«
»Wie vereinbaren die Leute, die über Geheimtext miteinander kommunizieren wollen, das Schlüsselwort?«
»Entweder verabreden sie es vorher, oder sie hinterlegen irgendwo Quellen, aus denen das Schlüsselwort hervorgeht, oder sie benutzen Codebücher.«
»Wie geht das?«, fragte Katinka und schnappte sich einen Stift.
»Du wählst ein Buch. Möglichst eines, das der Empfänger ohnehin im Regal stehen hat. Die Bibel ist beliebt, aber du kannst jedes beliebige Buch nehmen. In einem bestimmten Kapitel nummerierst du die Zeilen durch. Die Anfangsbuchstaben der Zeilen sind also fest mit ei ner Zahl verbunden. Dadurch kannst du eine Art Tagescode basteln.«
»Stopp«, sagte Katinka. »Kapiere ich nicht.«
»Du vermittelst mit dem Geheimtext das Schlüsselwort, mit dem es zu dechiffrieren ist. Wenn du dem Empfänger zu verstehen geben willst, mit welchem Schlüsselwort die Nachricht codiert ist, zum Beispiel Valentin , dann schickst du die Zahlen mit, die für V-A-L-E-N-T-I-N stehen.«
»O. k. Aber das ist auch nicht hundertprozentig sicher.«
»Aber schwer zu knacken. Je individueller das Buch, desto besser, du kannst auch ab Seite zehn jedes zehnte Wort nummerieren oder so. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Verflixt.« Im Telefon hörte Katinka ein Aufjaulen, als würde jemand gegen die Saiten einer Gitarre prallen. Auf einen Schlag war es wieder still.
»Sag mal«, begann Katinka, »gibt es beim Verschlüsseln so eine Art Handschrift? Ich meine, könnte man an der Art der Verschlüsselung erkennen, wer den Text codiert hat?«
Valente dachte nach.
»Nein, nicht wirklich«, sagte er schließlich. »Höchstens, dass jemand eine bestimmte Technik bevorzugt oder eine verschlüsselte Nachricht überschlüsselt, also ein zweites Mal codiert.«
»Wie wär’s, wenn wir uns treffen«, sagte Katinka, »damit du mir ein bisschen mehr Nachhilfe geben kannst. Morgen Nachmittag vielleicht? Gleicher Ort?«
Der Junge zögerte.
»Mal sehen«, sagte er schließlich. »Ich muss Schluss machen.«
Katinkas Handy meldete einen neuen Anruf.
»Gut, bis morgen«, sagte sie hastig und nahm das andere Gespräch an.
»Guten Abend«, drang Ljubovs rauchgeschwängerte Stimme zu ihr durch. »Ich habe Falk raus. Kommst du zu mir in die Kanzlei?«
»Jetzt?«, fragte Katinka entgeistert. Es war kurz vor halb zehn.
»Könnte interessant für dich werden«, sagte Ljubov nur und pustete Rauch in die Leitung. »Bis gleich.«
Katinka schwang sich auf ihr Fahrrad und war wenige Minuten später in der Willy-Lessing-Straße. Sie schloss ihr Rad ab und klingelte an der Kanzleitür.
»Komm rein.« Ljubov öffnete ihr. Es stank nach Rauch. Alle Fenster waren geschlossen. Unwillkürlich wedelte sich Katinka mit der Hand Luft zu. Ljubov machte sich an einem Kästchen neben der Tür zu schaffen.
»Wie geht’s ihm?«, fragte Katinka, während sie hinter Ljubov ins Büro ging.
»Geht so.«
Ljubov hielt ihr die Tür auf. Jens Falk hockte auf einem Drehstuhl vor Ljubovs Schreibtisch. Sein Gesicht war verquollen.
»Ach, hallo«, brachte er heraus und stand auf. Die Hand, die er Katinka entgegenstreckte, zitterte.
»Guten Abend«, sagte Katinka. »Was ist los?«
»Ich habe Doris nicht umgebracht«, sagte Jens sofort, während er sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ. »Irgendwer will mir was in die Schuhe schieben. Es hängt mit den Informationen zusammen, die ich Ihnen gegeben habe. Ich …«
»Einen Moment«, unterbrach Ljubov. »Wer möchte Tee? Katinka, hier liegt Konzeptpapier, du wirst einiges zum Mitschreiben brauchen.« Sie schenkte Teesud in feine Porzellantässchen.
Katinka setzte sich. Selbst einen guten Meter neben Falk roch sie den aufdringlichen Schweißgeruch, der aus seinen Klamotten dampfte. Er trug immer noch das schwarze T-Shirt mit ›Roxy Music‹ auf der Brust. Allerdings hatte sie den Eindruck, dass zumindest sein Haar frisch gewaschen war.
»Ljubov, können wir nicht mal ein Fenster aufmachen?«, fragte Katinka.
»Nein!«, entgegnete Ljubov scharf. Sie goss den Sud mit heißem Wasser aus dem Samowar auf, servierte die Tassen, stellte
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