Spinnefeind
eine Zuckerdose auf den Schreibtisch und schob Bücher und Akten zur Seite. Obenauf sah Katinka ein Buch ohne den typischen Einband juristischer Fachliteratur. Tschechow, entzifferte sie. Es war ein Taschenbuch, zerlesen, der Rücken völlig abgestoßen, achtlos auf die Seiten gelegt. Das würde Hardo gar nicht gefallen, dachte sie belustigt. Der Büchernarr achtete penibel auf die schonende Behandlung seiner gedruckten Freunde.
»Marmelade ist immer noch aus«, entschuldigte sich Ljubov. Sie angelte nach einer Lesebrille aus ihrem Arsenal und setzte sie sich auf die Nasenspitze. »Leg los, Jens.«
»Sollen wir hier drin ersticken?«, fragte Katinka ärgerlich. Der Schweiß lief ihr über die Stirn und brannte in den Augen.
»Die Fenster hängen an der Alarmanlage.«
»Ich glaube«, sagte Falk und atmete tief durch, »dass der Mord an Doris, Hannes’ Verschwinden und die geklauten Dokumente und Klassenarbeiten miteinander zusammenhängen.« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Mein Gott, ich würde Doris doch nicht umbringen. Wir waren zwei Jahre zusammen, haben ein Leben geteilt, nur irgendwann ging es nicht mehr. Mit ihrer Klammerei hat sie mich total erstickt.«
Katinka unterdrückte ein Gähnen und sah in den mittlerweile dunklen Juliabend hinaus.
»Sie hat mich genervt«, fuhr Falk fort und begann, auf seinem Drehstuhl Karussell zu fahren, »aber ich habe sie nicht gehasst, und ich hätte sie niemals getötet.«
»Das glauben wir ja«, sagte Katinka rasch. »Warum aber meinen Sie, dass die anderen Geschichten mit dem Mord an Ihrer Lebensgefährtin zu tun haben?«
»Da will mir einer was anhängen. Ich bin mir sicher. Ganz sicher.« Falk stand auf und tigerte durch Ljubovs Büro. »Es geht um diese Akte. Ich bin Persona non grata. Man will mich loswerden. Deswegen die gestohlenen Tests und all das. Aber warum sie Doris umgebracht haben, das will mir nicht in den Schädel!« Er setzte sich wieder und nahm einen Schluck Tee. Als er die Tasse hob, sah Katinka einen riesigen blauen Fleck auf seinem rechten Ellenbogen.
»Ich weiß zu viel«, winselte er. »Und sie dachten, dass auch Doris was weiß. Deswegen haben sie sie umgebracht.«
»Was genau weißt du?«, fragte Ljubov. »Du musst die ganze Geschichte erzählen. Nicht nur den Streit mit Doris. Komm schon, mach!«
Falk nippte an seinem Tee.
»Es geht um eine Akte. Um Kaminsky. Damals in Kulmbach – ich war doch dort Referendar – stieß ich auf die Story. Natürlich ging mich das nichts an, aber …«
»Könnten Sie zum Punkt kommen?«, fragte Katinka ungeduldig, während sie einen Blick mit Ljubov wechselte. »Was für eine Akte?«
Ljubov verzog die Lippen. Falk wühlte theatralisch in seinem Haar. Katinka konnte auf seinem T-Shirt die Salzränder unter den Achseln sehen.
»Kaminsky«, sagte er. »Meine Güte, wenn ich gewusst hätte, was ich da auslöse!« Er ruderte mit den Armen und stieß gegen einen Stapel leerer Ordner, die mit lautem Scheppern zu Boden fielen. »Sorry.« Er trank seinen Tee aus und reichte Ljubov die Tasse. »Könnte ich noch Tee …?«
»Meinen Sie, dass Hannes abgetaucht ist, hängt mit Ihnen und einer Kulmbacher Akte zusammen?«, bohrte Katinka. Irgendwie musste sie ihn zum Reden bringen. Vielleicht klappte es, wenn sie ein paar Stichwörter in die Runde warf, obwohl sie ihm gerade eine Suggestivfrage gestellt hatte. Kriminalistisch gesehen auch nicht das Gelbe vom Ei, dachte sie.
»Ich habe den Schülern in der Krypto-AG versprochen, sie würden einen richtig wichtigen Geheimtext entschlüsseln. Nicht nur Codes, die ich für sie zusammengebastelt hatte. Sondern was Echtes.«
»Was Echtes?«, fragte Katinka.
Ljubov fragte:
»Kaminsky, wie noch?«
Falk ging gar nicht auf die Fragen ein.
»Hannes hat als Erster rausgekriegt, wie … Ich habe die Schüler da in etwas verwickelt. Die konnten gar nicht wissen …«
Ein Knall kam von der Eingangstür. Die Zimmertür wackelte. Ljubov nahm die Lesebrille ab und sah auf. Katinka beobachtete ihre Bewegungen, als geschähen sie unter Stroboskoplicht, während ihr Herz zu rasen begann. Schritte näherten sich der Bürotür, Ljubov war halb aufgestanden, die Brille baumelte in ihrer Hand. Das Licht ging aus. Die plötzliche Düsternis malte graue Flecken vor die Augen. Die Bürotür sprang auf. Katinka wirbelte herum. Zwei Schatten glitten durch die Dunkelheit auf sie zu. Sie hörte gedämpfte Tritte von Gummisohlen auf dem Parkett. Zwei rote Punkte schwebten durch den
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