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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rawi Hage
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dich überhaupt nicht, sagte sie.
    Mary, süße Mary, sagte ich, du hast denselben Namen wie meine Mutter, die Trapezakrobatin. Ich biete dir mein Bett an und meine Bücher. Die Nachbarn sind zu dieser Nachtzeit still. Du wirst in der Geschichte blättern und mit den Büchern einschlafen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bringe dich in die Wohnung und fahre wieder fort. Meine vielen Helden werden dir Gesellschaft leisten, wenn du magst, reiße ich ihre Widersacher Seite um Seite aus den Büchern. Ich sage dem alten Spanier auf seinem dürren Klepper, dass er dich beschützen soll vor bedrohlich drehenden Windmühlen und bösen Raubrittern. Ich schicke Sancho los, er bringt dir scharfes chinesisches Essen aus einem Restaurant um die Ecke. Aber Mary, süße Mary, pass auf, dass du dir den Kopf nicht stößt, wenn du hereingehst. Denn tief hängen die Regale, und die Wohnungen der Spinnen sind schnell zerstört.
    Mary trat in die Wohnung und blieb gleich am ersten Regal stehen. Staunend und lächelnd sah sie sich um, sie blätterte in den unablässig polternden Büchern, der Ostwind, der von der arabisch-persischen Sammlung herüberwehte (es gibt gute historische Gründe, diese Bücher in ein Regal zu sortieren), zerrte an ihnen. Die unter mir wohnende Studentin würde sich bestimmt wieder beschweren. Es regnete Bücher, immer mehr, sie fielen zu Boden und flatterten wie Schmetterlingsschwingen. Bücher, rief sie lachend, so viele Bücher! Sie rannte durch den Garten meiner Sammlung, es dauerte nicht lange, bis wir unsere Feigenblätter ablegten und uns in einem Winkel liebten, wo unsere nackten Arschritzen, die hoppelten wie die Pferde der Invasoren im Heiligen Land, von himmlischen Versen geküsst wurden. Und so entschwebten wir der Stadt und landeten an der Stelle, wo Moses das Meer spaltet und die Juden in die rauschende Schlucht führt, wo rechts und links die Wassermassen einzustürzen drohen und das vertriebene Händlervolk sich fragt, ob Moses wohl weiß, was er da tut. Und wenn seine Hand müde würde, wenn er aus Versehen den Zauberstab fallen ließe? Wenn er von einem feuchten Wüstenhintern abgelenkt würde, eine Sandale verlöre? Was wäre, wenn dieser Gott, der einzigartig sein wollte wie der teuerste schottische Whiskey, auf einmal keine Lust mehr hätte? Wenn das Rote Meer, das die Farbe von Menstruationsblut hat, über ihnen zusammenstürzte? Keiner von ihnen würde überleben. Ein schwarzer Goi aus New York, einen Big Apple in der Hand, war nur zum Spaß mitgekommen. Er sagte: Ich hoffe nur, dass er die Sache nicht verbockt, dieser Scheißtyp, der im Körbchen den Fluss runtergetrieben ist, bevor er die Schwester vom Pharao gefickt und den Bullengott Baal geschlachtet hat. Und als sich das Meer schließlich vor ihnen teilte, sagte der Mann aus dem Getto: Hey, was geht denn hier ab? Scheiße, da geh ich nicht rein. Guckt euch nur den Schlamm da unten an, die seitwärts krabbelnden Krebse, die Quallen und den ganzen Mist … unsere Sandalen werden in den Algen hängen bleiben … dieser Verrückte führt uns in den tiefsten Sumpf, weil er Anspruch auf ein paar Olivenbäume und eine Ziegenherde erhebt. Verdammt, ich kehre um und beantrage die ägyptische Staatsbürgerschaft, ich werde ein kosmopolitischer Einwanderer, ich kann auf dem Gehsteig Papyrus verkaufen und einen Streitwagen als Taxi fahren. Zur Not, Bruder, gibt es immer noch Arbeit bei den Pyramiden.
    Als ich in die Tiefgarage zu meinem Wagen gehen wollte, bat Mary mich zu bleiben.
    Sie weinte die ganze Nacht. Ich zauberte eine Gedichtsammlung unter der Matratze hervor und las ihr laut vor. Ich schwang mich von Regal zu Regal, streckte mich nach den lustigsten Kapiteln und riskierte, dass die ganze Bücherwelt auf unsere Köpfe stürzte. Als ich ihr aus Hrabals Allzu laute Einsamkeit vorlas, lachte sie am lautesten über die Figur des Onkels, einen besoffenen Lokführer, der in seinem eigenen Garten Kreise fährt. Doch dann kamen wir an die Stelle, wo Bücher eingestampft und zerstört werden, und wir begannen, ein Dosenbier nach dem anderen zu schütten, nicht anders als Hrabal, der es versäumt hatte, seine Figuren vor der Stampfmaschine zu retten. Wir tranken die ganze Nacht, wir küssten uns, wir lasen und weinten, bis das Kleenex neben meinem Bett beinahe aufgebraucht war. Also ging ich runter zum Wagen, nahm die Schachtel vom Armaturenbrett und bemerkte, dass das Taxameter noch lief. Eines Tages wird ihr Mann dafür bezahlen, dachte

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