Spion der Liebe
irgendwelcher erfundener Missetaten Anklage gegen sie erhob, würde sie womöglich im Gefängnis landen.
Außer ihren Farben und Pinseln besaß sie keine wertvollen Sachen. Nach dem Tod des Vaters hatte sie ihr Erbe an die Gläubiger abtreten müssen. Immerhin habe ich meine Freiheit gewonnen, dachte sie dankbar und trug ihr Gepäck aus dem Zimmer.
Im Flur blieb sie kurz stehen und lauschte, voller Angst, jemand könnte ihr den Weg versperren. Aber im Erdgeschoß herrschte tiefe Stille. Auf leisen Sohlen lief sie die Dienstbotentreppe hinab und verließ das Haus durch die kaum benutzte Tür, die in den Küchengarten führte.
Es war ein sonniger Februartag. Herzklopfend eilte sie an den Stallungen hinter den vornehmen Häusern am Russell Square vorbei, zum Fahrkartenbüro der Schifffahrtslinie. Das schöne Wetter erschien ihr wie ein gutes Omen.
In der Abenddämmerung erreichte sie Dover. Ein violetter Himmel kündigte Regenfälle an.
Nachdem sie sich beim Postkutscher nach dem Weg erkundigt hatte, lief sie zum Hafenbüro der Schiffahrtslinie, das gerade zugesperrt wurde. Aber der Beamte versprach, ihr Gepäck an Bord der Betty Lee bringen zu lassen, die am nächsten Morgen auslaufen würde.
»Gibt es einen Gasthof in der Nähe?« fragte sie. Eigentlich konnte sie sich kein Zimmer leisten. Aber sie mußte Schutz vor dem drohenden Gewitter suchen.
»Da drüben, der Pelican.« Der Mann zeigte auf ein kleines Stuckgebäude unterhalb einer zerklüfteten Klippe. »Sagen Sie Fanny, ich hätte Sie zu ihr geschickt.«
Wenig später wurde Serena von Fanny, der Wirtin, freundlich willkommen geheißen. Von dieser warmherzigen Begrüßung ermutigt, fragte sie, ob sie die Nacht im Salon verbringen dürfe.
»Sie sind wohl knapp bei Kasse, was?« Fanny lächelte verständnisvoll.
»Nun, ich hatte nicht geplant, in einem Gasthof zu übernachten«, gestand Serena und errötete verlegen.
»Keine Bange, meine Liebe. Im Salon haben wir genug Platz. Da sitzen nur vier Leute. Aber diese Londoner Nabobs und ihr Puppen machen eine Menge Lärm. Halten Sie sich von ihnen fern. Die haben schon eine halbe Kiste von meinem besten Champagner getrunken, und sie schreien immer lauter.«
Serena spähte in den kleinen Salon. An einem der Fenster, die zum Meer hinausgingen, saßen zwei attraktive junge Männer und lauschten dem melodramatischen Vortrag zweier junger Damen.
»Gerade haben sie das Dinner bestellt«, erklärte Fanny. »Also werden sie noch eine Weile dableiben.«
»Vielleicht könnte ich hier im Flur sitzen«, schlug Serena vor.
»Um Himmels willen, nein, Kindchen! Hier draußen ist’s eiskalt. Setzen Sie sich dort drüben in die Ecke, beim Kamin. Wenn Sie keinen Laut von sich geben, wird man Sie gar nicht bemerken. Nehmen Sie sich in acht! Diese Lebemänner könnten einem jungen Mädchen gefährlich werden. Sobald Tad die feine Gesellschaft bedient hat, bringt er Ihnen einen Teller Suppe und eine Tasse Tee.«
Mit einer wegwerfenden Geste unterbrach die Wirtin Serenas Dankesworte.
Während die Gentlemen vom neuesten Spottlied über den Prinzen von Wales gefesselt wurden, das die Damen zum Besten gaben, huschte Serena unauffällig in den Salon und nahm neben dem Kamin Platz. Bald würde das Schiff sie nach Italien bringen. In Florenz wollte sie ihre Freunde aufsuchen, die Castellis, in den Künstlerateliers studieren und all die Gemälde besichtigen, die ihre Mutter – eine Florentinerin – beschrieben hatte. Trotz ihrer Müdigkeit und ihres Hungers fühlte sie sich wohl, beschützt vor dem Regen. Mittlerweile prasselten schwere Tropfen gegen die Fenster.
Während sie ihre Suppe aß und Tee trank, verspeisten die Gentlemen und ihre Begleiterinnen Fannys besten Rindsbraten und Pudding. Dazu tranken sie Champagner, lachten und küßten sich. Manchmal saßen die Damen sogar auf dem Schoß der jungen Männer. Serena versuchte, nicht hinzuschauen. Aber sie konnte das amouröse Geplänkel nicht überhören.
Da es immer stärker regnete, erörterte die kleine Gesellschaft, ob sie die Nacht im Gasthof verbringen oder die Rückreise nach London antreten sollte. Diese Frage schien den dunkelhaarigen Gentleman nicht zu interessieren. Geistesabwesend küßte er die Dame, die an seinem Hals hing.
Von der Wärme des Kaminfeuers eingelullt, schloß Serena die Augen. Wie aus weiter Ferne wehten die fröhlichen Stimmen heran. Ein schrilles Kichern riß sie aus ihrem leichten Schlaf. Unwillkürlich schaute sie zur Gesellschaft
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