Spione kuesst man nicht
sich nicht vorstellen konnten, warum ich sie daran hindern wollte, einen offensichtlichen Lockvogel außer Gefecht zu setzen.
»Josh!«, flüsterte ich streng, während ich den Sender ausschaltete und auf ihn zuging. »Was machst du hier?«
»Ich wollte dich retten.« Dann schaute er sich um und sah meine schwarz gekleideten Mitschülerinnen. »Wer sind die denn?«, fragte er leise.
»Wir wollten sie auch retten«, erwiderte Bex.
»Oh«, sagte er und nickte. »Da war ein Auto … ich hab dich gesehen … ich …«
»Das?«, sagte ich und schwenkte die Hände. »Das hat was mit der Schule zu tun.« Ich versuchte, so lässig wie möglich zu klingen. »Eine Art … Aufnahmeritual.«
Josh hätte mir vielleicht geglaubt, wenn nicht alle Mädchen eines Jahrgangs auf dem Dach einer Lagerhalle gestanden hätten, schwarz gekleidet und mit dicken Werkzeuggürteln ausgerüstet.
»Cammie«, sagte er und kam noch näher. »Zuerst finde ich raus, dass du auf diese Schule gehst, dann sagst du mir, dass du abhaust, und dann seh ich, wie du wie eine Wahnsinnige um dich trittst und entführt wirst oder so was.« Er machte noch einen Schritt und stieß aus Versehen an ein Stück Metall, das vom Dach rutschte und auf den Hof krachte.
Sirenen heulten, und Scheinwerfer suchten die Fläche unteruns ab. Liz blickte in die Tiefe und jammerte: »Er hat den Alarm ausgelöst!«
Aber das alles war unwichtig, weil ich nur Josh sah und die Angst in seiner Stimme hörte. »Cammie, sag mir die Wahrheit!«
Die Wahrheit. Ich wusste kaum noch, was das war. Ich hatte sie so lange vermieden, dass ich einen Augenblick brauchte, um mich zu erinnern, wie ich auf das Dach gekommen war.
»Ich geh wirklich auf die Gallagher Akademie. Und das sind meine Freundinnen.« Hinter mir bewegten sich die anderen Mädchen und bereiteten sich auf die nächste Phase des Einsatzes vor. »Und wir müssen jetzt los.«
»Ich glaub dir nicht.« Es klang nicht, als ob er verletzt wäre, eher wie eine Herausforderung.
»Was soll ich denn sagen?«, fragte ich wütend. »Willst du hören, dass mein Vater tot ist, meine Mutter nicht kochen kann und die Mädchen so was wie meine Schwestern sind?« Er schaute an mir vorbei auf meine Mitschülerinnen in allen Größen, Formen und Farben. »Soll ich sagen, dass wir – du und ich – uns nie wiedersehen können? Das ist die Wahrheit. Alles ist wahr.«
Er streckte eine Hand aus, um mich zu berühren, aber ich zuckte zurück und sagte: »Such mich nicht, Josh. Ich kann dich nicht wiedersehen.« Dann schaute ich ihm zum ersten Mal tief in die Augen. »Und es ist besser für dich.«
Bex reichte mir ein Geräteteil, aber bevor ich es ergriff, schaute ich ihn noch einmal an. »Im Übrigen«, setzte ich hinzu, »habe ich keine Katze.«
Ich drehte mich um, damit er meine Tränen nicht sah und starrte in die tiefe, schwarze Nacht, die vor mir lag. Ich dachtenicht an das, was hinter mir lag. Keine Geheimnisse mehr, keine Lügen. Jetzt war ich frei, um das zu tun, was mir auf dieser Erde bestimmt war. Ich rannte los. Ich sprang. Ich streckte die Arme aus und zehn herrliche Sekunden lang konnte ich fliegen.
N atürlich flog ich nicht wirklich, sondern glitt zwischen zwei Gebäuden an einem Seil entlang, aber es fühlte sich trotzdem gut an, schwerelos zu sein.
Die Sache mit Josh lag hinter mir. Ich sauste etwas Neuem entgegen, und in dieser Höhe und bei der Geschwindigkeit konnte ich nicht zurückblicken. Ich landete, und es war ganz normal, Eva zu Tina sagen zu hören: »Wir laufen zu den Sicherungskästen.«
Courtney zischte: »Hinterher!«, was völlig richtig war, und zog Mick zur Feuerleiter auf der Westseite.
Wir waren Gallagher Girls im Einsatz und taten, was wir am besten konnten. Ich dachte nicht an das, was gerade passiert war, nicht einmal, als Bex fragte: »Alles okay?«
»Alles bestens«, sagte ich, und mit dem Adrenalinstoß des Augenblicks war es die Wahrheit.
Wir liefen zur Südseite, und Bex zog eine Art Lippenstift hervor, der eine superscharfe Säurecreme enthielt. Ich kann nur empfehlen, das Ding nicht mit einem Lippenstift zu verwechseln,denn kaum hatte Bex einen großen Kreis auf das Dach gemalt, fraß die Säure sich durch, und dreißig Sekunden später seilte ich mich in die Lagerhalle ab.
Sie war der reinste Irrgarten mit hohen Metallregalen, in denen sich Palletten stapelten. Als Bex und ich auf der Südseite durch das Gebäude krochen und darauf vertrauten, dass unsere Mitschülerinnen das
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