Spione kuesst man nicht
Moment schaltete Liz den Strom ab.
Dunkle Silhouetten tauchten aus dem Nichts auf. Es schien Gallagher Girls zu regnen. Ich wünschte, ich könnte der Reihe nach berichten, aber alles geschah viel zu schnell. Fäuste flogen, Fußtritte trafen ihre Ziele. Ich hörte, wie schwere Körper zu Boden gingen, als Napotin-Pflaster mit Haut in Berührung kamen.
Aber das Gebäude schien mit einer Notbeleuchtung ausgerüstet zu sein, weil sich eine Minute später unheimliches gelbes Licht in der riesigen Halle verbreitete. Als die Lampen angingen, wurde es still. Ich sah, wie Bex einen der Wächter niederstreckte und dann ins Büro stürmte. Auf der Schwelle hatte sie aber wohl einen Bewegungsmelder ausgelöst, denn eine Sirene ertönte und das Büro verwandelte sich in ein Gefängnis. Gitterstäbe schossen aus dem Boden und ein Käfig bildete sich um das, was wir brauchten.
Bex haute auf die Stäbe, als hinter ihr Mr Solomon sagte: »Tut mir leid, meine Damen, aber ich fürchte, dies ist das Ende Ihrer Mission.« Er schüttelte den Kopf, aber anstatt zu triumphieren, schien er tieftraurig zu sein. »Ich habe versucht, Ihnen beizubringen, wie wichtig das ist. Ich wollte Sie vorbereiten. Schauen Sie sich an!« Wir sahen blutverschmiert aus und alles tat weh, aber wir standen noch und trotzdem schien Mr Solomon Schuldgefühle zu haben und enttäuscht zu sein. »Wie wollten Sie denn hier wieder rauskommen? Was war Ihr Extraktionsplan? Waren Sie wirklich bereit, drei Viertel Ihres Teams sinnlos zu opfern?« Er schüttelte wieder den Kopf und zog sich zurück. »Ich will keine von Ihnen im nächsten Semester sehen. Das will ich nicht auf meinem Gewissen haben.«
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ich. »Aber gilt das auch, wenn wir die CD haben?«
Er lachte kurz, müde und kaum hörbar und erinnerte uns an das, was unsere Schwestern schon seit Jahrhunderten wissen: dass Männer weibliche Wesen stets unterschätzen. Sogar Gallagher Girls.
»Die CD«, sagte ich und zeigte auf den Käfig hinter ihm. Er hatte das Büro, bis auf die Spalte, wo sich der Fußboden geöffnet hatte, um die Gitterstäbe herausschießen zu lassen, vollkommen umschlossen. Die Öffnung war zu klein für einen erwachsenen Mann. Aber ein Mädchen passte durch – am besten eins von Anna Fettermans Größe.
Verdutzt sahen Mr Solomon und der Rest seines Teams zu, wie die kleine Anna winkte, sich dann durch die Spalte im Fußboden wand und nicht mehr zu sehen war. Einige Männer rannten los, aber Mr Solomon starrte nur weiter vor sich hin.
»Also«, sagte er. »Anscheinend –«
Aber bevor er zum Ende kam, krachte es laut. Die Halle füllte sich mit Staub und Rauch. Es klang wie splitterndes Holz. Der Kaugummi-Wächter warf mich gegen die Wand. Er brachte seinen Körper zwischen mich und irgendeine Gefahr, als Stahl sich verbog und die Regale wie Dominosteine kippten.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis der Kaugummi-Wächter mich losließ. Ich glaube, er war halb betäubt – ich war es auf jeden Fall. Schließlich geschieht es nicht alle Tage, dass man (A) mit dem heimlichen Freund Schluss macht, (B) von ehemaligen Agenten (oder so was Ähnlichem) entführt wird und (C) von dem oben erwähnten heimlichen Freund gerettet wird, indem er einen Gabelstapler durch die Wand fährt.
»Cammie!«, hörte ich Josh durch den Dreck rufen, aber ichkonnte ihm nicht antworten – jetzt noch nicht. Mr Solomon lag auf dem Boden. Er hatte alle Möglichkeiten eingeplant, bis auf eine, nämlich die Beharrlichkeit eines normalen Jungen, der das Pech hat, ein außergewöhnliches Mädchen zu lieben.
»Cammie!«, rief Josh durch den Staub, der um den Gabelstapler wirbelte, als er herunterkletterte und sich auf den Schutthaufen stellte. »Wir müssen reden!«
»Ja«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah meine Mutter. Meine starke, schöne, hochintelligente Mutter. »Das müssen wir.«
Mr Solomon rührte sich. Der Kaugummi-Wächter wedelte den Staub aus der Luft, und Bex grinste, als ob sie in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Spaß gehabt hätte. Es war vorbei – der Test, die Lügen, alles. Es war vorbei, und deshalb tat ich das Einzige, was ich tun konnte.
»Josh«, sagte ich, »das ist meine Mutter!«
N achdem ich die Wahrheit über meine Eltern erfahren hatte und bevor ich zur Gallagher Akademie gekommen war, machte ich mir nur dann keine Sorgen, wenn ich beide zusammen sah. Ich glaube, damals wurde ich zum Chamäleon. Ich schlich mich in ihr
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