Spione kuesst man nicht
ist. Sag mir, dass deine Mutter nicht kochen kann und du ein Einzelkind bist. Warum erfindest du eine Familie? Warum ein anderes Leben?« Josh schaute über das Geländer neben dem Geschichtssaal auf die riesige Eingangshalle der Gallagher Akademie und sagte: »Was ist so toll daran, normal zu sein?«
Ich war vielleicht das Genie, aber Josh erkannte die Wahrheit. Eine Zeit lang hatte ich ein anderes Leben gebraucht, ein Probeleben – ein vorübergehend normales. Nur musste ich jetzt den verletzten Blick eines Menschen sehen, der mir eine Menge bedeutete, und ihm sagen, dass ich niemals die Freiheit hätte, ihn wirklich zu lieben, weil … weil ich ihn sonst töten müsste.
Dann wurde mir klar, wo wir waren – was er sah. JOSH WEISS BESCHEID!, schrie es in meinem Kopf. Es brauchte keine Lügen mehr zu geben. Er ist dabei. Er ist (irgendwie) einer von uns. Er ist …
Aber Josh ging schon die Treppe hinunter. Ich rannte ihm hinterher und schrie: »Warte, Josh! Wart auf mich! Es ist okay. Es ist …«
Unten angekommen blieb er stehen und zog eine Hand aus der Hosentasche. »Willst du sie wieder?« Ich sah die Ohrringe auf seiner Handfläche.
»Ja«, sagte ich, nickte und verkniff mir die Tränen. Ich sprang die letzten Stufen hinunter, und er drückte mir die Ohrringeso schnell in die Hand, dass ich seine Finger nicht spürte. »Ich liebe sie. Ich wollte nicht –«
»Klar.« Er machte ein paar Schritte. Ich kenne wahrscheinlich ein Dutzend verschiedener Griffe, um einen Typ von seiner Größe zu bändigen, aber ich hätte natürlich keinen angewandt. (Okay, es kam mir kurz in den Sinn …)
Oh, Mann, er verschwindet!, dachte ich und wusste nicht, ob ich traurig sein sollte, weil ich ihn verlor, oder ob ich mich freuen sollte, dass wir ihn mit intaktem Gedächtnis aus der Tür gehen ließen. Ließen sie das tatsächlich zu? Vertrauten sie ihm so sehr? Hatten sie ihn geprüft und für sicher befunden? Hatte jemand beschlossen, dass er den Tee nicht zu trinken brauchte, um einzuschlafen und dann aufzuwachen und zu denken, er hätte einen verrückten Traum gehabt, an den er sich nicht mehr erinnern kann?
Ist es okay, dass ich ihn liebe?
Er langte nach dem Türgriff, und ich rief »Josh!«.
Wenn schon die Gallagher Akademie das alles riskierte, dann sollte ich doch zumindest versuchen, die Sache zwischen uns wieder ins Reine zu bringen. »Ich … ich fliege in den Winterferien nach Nebraska. Meine Großeltern leben dort, die Eltern meines Vaters. Aber ich komm zurück.«
»Okay«, sagte er, »dann seh ich dich irgendwann.«
Es war kurz wie ein Augenzwinkern, aber Josh lächelte mich an – schnell und lieb, aber es reichte, um mich wissen zu lassen, dass er es ehrlich meinte. Er wollte mich wiedersehen und, was noch wichtiger war, es bewies, dass er nach mir Ausschau halten würde.
Ich fing gerade an, mir vorzustellen, wie es sein würde: ein neues Jahr, ein neues Semester, ein neuer Anfang ohneGeheimnisse. Aber dann blieb er stehen und meinte: »Oh – und sag deiner Mutter bitte noch mal vielen Dank für den Tee!«
Er öffnete die Tür und ging. Ich stand noch lange in der leeren Eingangshalle. Im Kino passiert es ja auch ziemlich oft, dass der Abschiednehmende nach einem dramatischen Lebwohl durch die Tür gestürmt kommt, um die Zurückbleibende mit einem hochdramatischen Kuss in die Arme zu schließen. Und für den Fall, dass dramatische Küsse für mich drin waren, wollte ich mich nicht vom Fleck rühren.
Ich spürte, dass etwas Weiches, Warmes an meinem Bein vorbeistrich, und sah Onyx, die ihren Schwanz um meinen Knöchel wickelte. Sie tröstete mich schnurrend und klang wie eine sehr zufriedene Katze. Da wusste ich, dass sich der Kreis geschlossen hatte.
Hinter mir sprangen Mädchen die Treppe hinunter zum großen Saal, um vor dem ersten Tag der Abschlussprüfungen noch ein paar Lerngruppen zu bilden. Aber als sie an mir vorbeiliefen, war klar, was das Hauptgesprächsthema beim Frühstück wäre. (Wenn ihr denkt, dass normale Mädchen gerne tratschen, dann solltet ihr mal die Gallagher Girls erleben!)
Aber es machte mir nichts aus, dass sie mich anstarrten. Stattdessen stand ich schwankend in der Strömung der vielen Körper, die sich an mir vorbeischlängelten, um den Tag zu beginnen, aber ich rührte mich nicht, bis Bex neben mir auftauchte.
»Hey.« Sie drückte mir ein Buch und einen Bagel in die Hände. »Los, komm!«, sagte sie und zupfte an meinem Arm. »Wir haben eine LdW-Prüfung
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