Spittelmarkt
Gesichter, so ging es mir durch den Sinn, gab es heutzutage eigentlich nicht mehr. Die holde Gelassenheit seines Ausdrucks, die klaren, grünen Augen, die gerade abfallende Nase und der liebliche Mund, schließlich die edle anmutige Haltung des Körpers: All dies schien aus der begnadeten Hand eines florentinischen Künstlers auf ein Renaissancegemälde geworfen zu sein.
»Noch ein Bier oder einen Hennessy?«, erkundigte sich der junge Kellner.
»Ja, bitte – beides«, gab ich zur Antwort.
Sie unterhielt sich mit dem Schauspieler, doch war es hauptsächlich Helmholtz, der sprach. Hin und wieder konnte ich seine brummige Stimme hören, vor allem in den Momenten, wenn er bei dem Kellner, der ihn wie einen Stammgast behandelte, eine Bestellung aufgab. Auch Helmholtz trank Hartes, und das in kurzen Abständen. Die Schöne an seiner Seite nippte derweil an einem Gläschen Wein; sie schien am Alkohol kein großes Interesse zu haben.
»Ist das dort drüben nicht der Filmschauspieler Helmholtz?«, fragte Wolfrath, dem mein abschweifendes Interesse nicht entging.
»Ja. Man erzählt sich, er sei zu Dreharbeiten nach Hollywood unterwegs.«
»Eigenartig«, sagte Wolfrath, senkte den Blick und starrte stumm auf sein Glas. »Nun, es mag wohl ein Zufall sein.«
Vielleicht hätten sich ein paar Dinge anders entwickelt, wenn ich nachgefragt hätte, was er damit meinte; allein: Ich tat es nicht.
Wolfraths Interesse kehrte wieder zu unserem Thema zurück, und er erzählte mir von der Weisheit der Menschen früherer Zeiten. Bisweilen erwiderte ich etwas, das ich kurz darauf aber wieder vergaß.
Die anmutige Artistin musste gespürt haben, dass ihr mein uneingeschränktes Interesse galt, denn als ich erneut hinübersah, drehte sie jäh den Kopf und schaute einen Moment lang unverwandt in mein Gesicht.
Ich versuchte zu lächeln, hoffte inständig, dass es keine Grimasse war und schwebte auf Wolke sieben, nachdem sie zurücklächelte. Ein heller Sonnenstrahl durchglühte meine sehnsüchtige Seele. Am liebsten wäre ich zu ihr hingegangen und hätte sie angesprochen, doch ich wusste, dass man so etwas nicht überstürzen durfte. Gerade einer solchen Frau musste man sich behutsam nähern.
Es verging eine Viertelstunde, ohne dass es mir gelang, einen weiteren Blickkontakt mit den meergrünen Augen der Schönen herzustellen. Irgendwann sah ich, wie Helmholtz die Rechnung bezahlte. Kurz darauf standen die beiden von ihren Barhockern auf und schritten auf den Ausgang zu.
An der Tür hielt die schöne Artistin einen Moment lang inne und sah in den Raum zurück, so als wollte sie all die bewundernden Blicke in sich aufnehmen, die ihren eleganten Schritten nachgefolgt waren. Das zarte Lächeln, das dabei ihre Lippen umspielte, schickte sie nuanciert, dennoch überdeutlich auch in meine Richtung, ehe ihre federnde Gestalt noch vor der des Schauspielers zum Deck hinaus verschwand.
4
Am nächsten Tag nahm ich mir die Zeit, einen Blick in die Unterlagen zu werfen, die mir Philipp Arnheim in Berlin kurz vor Antritt meiner Reise übergeben hatte. Mit Ausnahme einer Aufstellung aller wichtigen persönlichen Daten der Arnheims enthielten sie an hervorgehobener Stelle den Hinweis auf den entwendeten Brief, dessen Rückgabe Bedingung für den Abschluss einer Vereinbarung über die Folgen der Scheidung war. In den Unterlagen befand sich auch ein Brief von Philipp Arnheim an seine Frau, der in einem verschlossenen Umschlag steckte, und für den Arnheim mir aufgetragen hatte, ihn nur persönlich an Florence zu übergeben.
Was wusste ich von Philipp Arnheim? Was von Florence Arnheim, seiner Frau?
Haller, mein Seniorpartner, hatte mir erzählt, dass Arnheim unmittelbar nach dem Weltkrieg als einer der ersten Harvard-Stipendiaten der Wirtschaftswissenschaften, denen dergleichen ermöglicht wurde, nach Amerika gegangen war. Dort war er Florence begegnet, dem einzigen Kind eines deutschstämmigen Geschichtsprofessors; Florence’ Mutter, obgleich viel jünger als ihr Mann, war zu jener Zeit schon verstorben. Florence’ Vater gehörte zu der Schicht der Amerikaner, die an allem hing, was Deutsch war oder sich diesen Anschein gab. Selbstredend, dass er die Verbindung seiner Tochter mit Arnheim für ausgesprochen gut befand. Die frisch Vermählten waren nach Deutschland gegangen, wo Philipp Arnheim schnell in die Führungsspitze des familieneigenen Bankhauses aufgestiegen war. Seit dem Tod seines Vaters vor zwei oder drei Jahren war er der alleinige
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