Splitter
nicht nur Angst vorm Leben, jetzt fürchte ich mich auch noch vor dem Tod!«
Marc nickte Julia zu, die ihm den Mittelfinger zeigte. Ein tiefes Schluchzen durchschüttelte ihren schmalen Körper, während sie sich auf das Sprungbrett setzte. Zwei Rettungssanitäter waren bereits auf dem Weg zu ihr nach oben. »Und du singst scheiße!«, brüllte sie ihm heulend hinterher.
Marc musste lächeln und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
»Der Zweck heiligt die Mittel«, rief er zurück. Er bahnte sich seinen Weg durch das Blitzlichtgewitter der Pressehyänen und versuchte der Frau in dem Trenchcoat auszuweichen, die sich ihm in den Weg stellte. Er erwartete eine Tirade an Vorwürfen und war über den geschäftsmäßigen Blick erstaunt, den sie ihm schenkte.
»Mein Name ist Leana Schmidt«, sagte sie sachlich wie bei einem Vorstellungsgespräch und reichte ihm die Hand. Das schulterlange, braune Haar trug sie so streng zurückgebunden, dass es so aussah, als ziehe jemand von hinten an ihrem Zopf.
Marc zögerte kurz und griff sich wieder an seinen Verband im Nacken. »Wollen Sie sich nicht erst einmal um Julia kümmern?«
Er sah zum Sprungbrett hoch. »Deswegen bin ich nicht hier.« Ihre Blicke trafen sich. »Worum geht es dann?«
»Um Ihren Bruder. Benjamin ist vorgestern aus der psychiatrischen Klinik entlassen worden.«
4. Kapitel
Der schwarz glänzende Maybach, der am Ende der schmalen Sackgasse parkte, wirkte in dieser Gegend nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen Ausmaße wie ein Fremdkörper. Normalerweise rollten solche Schlachtschiffe nur durch das Regierungsviertel und nicht durch den Bezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate der Hauptstadt.
Marc hatte die unbekannte Frau, die mit ihm über seinen Bruder sprechen wollte, einfach stehen lassen und bemühte sich, so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Einerseits, weil er auch ohne Neuigkeiten von Benny bereits genug Sorgen am Hals hatte, andererseits musste er Abstand zwischen sich und diesen trostlosen Ort bringen. Zudem wurde es hier draußen von Minute zu Minute kälter.
Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und rieb sich die Ohren. Sie waren der wetterempfindlichste Teil seines Körpers und reagierten auf Frost stets mit einem ziehenden Schmerz, der sich schnell bis zu den Schläfen ausbreiten würde, wenn er nicht bald ins Warme kam.
Marc überlegte gerade, ob er die Straßenseite wechseln sollte, um zur U-Bahn zu gehen, als er das Knirschen der Breitreifen hinter sich hörte. Der Fahrer betätigte zweimal kurz die Lichthupe, die Halogenlichter wurden von dem nassen Kopfsteinpflaster reflektiert. Marc blieb auf seiner Seite des Bürgersteigs und lief schneller. Wenn er eines durch seine Arbeit auf der Straße gelernt hatte, dann, dass man es in Berlin so lange wie möglich vermeiden sollte, auf Fremde zu reagieren.
Der Wagen schloss zu ihm auf und verlangsamte dann auf Schritttempo, um fast lautlos neben ihm herzugleiten. Dass der Maybach auf der Gegenspur fuhr, schien den Fahrer nicht zu kümmern. Das Fahrzeug war ohnehin so breit, dass ein entgegenkommendes Auto hier nicht an ihm vorbeikonnte.
Marc hörte das typische Surren einer elektrischen Fensterscheibe. Dann flüsterte eine heisere Frauenstimme seinen Namen. »Dr. Lucas?«
Sie klang freundlich und ein wenig kraftlos, also riskierte er einen Blick aus den Augenwinkeln und war erstaunt, dass es sich bei der Sprecherin um einen älteren Mann handelte. Er schien weit über sechzig zu sein, vielleicht sogar über siebzig. Während die meisten Stimmen im Alter tiefer wurden, war bei ihm offensichtlich das Gegenteil eingetreten.
Marc beschleunigte seinen Schritt, als er den Mann am Nadelstreifenanzug wieder erkannte. Er hatte ihm vorhin vom Beckenrand aus zugewinkt.
Verdammt, werde ich heute denn nur von Spinnern verfolgt?
»Dr. Marc Lucas, zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in der Steinmetzstraße 67 A in Schöneberg?«
Der Alte saß auf einem hellen Ledersitz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Offenbar war der Innenraum der Limousine so groß, dass man sich im Fond gegenübersitzen konnte.
»Wer will das wissen ?«, fragte Marc, ohne aufzusehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Unbekannte mit den weißen Haaren und den wild wuchernden, daumendicken Augenbrauen keine Bedrohung darstellte. Aber das hieß noch lange nicht, dass er nicht der Bote schlechter Nachrichten sein konnte. Und von denen hatte er in den letzten Wochen weiß Gott mehr als genug erhalten.
Der Alte
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