Splitterfasernackt
sich.
Und dann verschlingt mich die Nacht.
Irgendwann wache ich auf. Ich liege still, ganz dicht bei Chase, starre die Zimmerdecke an und wage es nicht, mich zu bewegen, aus Angst, ihn aufzuwecken. Die Ruhe in mir ist fremdartig, ich bin viel zu gelassen, viel zu nah bei mir selbst. Aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich für Chase nie eine meiner Rollen spielen konnte, auch wenn ich es vorher noch so oft vor dem Spiegel geprobt habe.
Für ihn war ich immer Lilly.
Einfach nur Lilly.
Und es tut weh, bei ihm zu bleiben.
Denn ich könnte mich daran gewöhnen, nicht mehr alleine zu sein. Ich könnte einen Bezug aufbauen, der mich mit dem Leben verknüpft. Dabei bin ich doch so gut darin, zu flüchten.
Ja. Ich kenne das Abseitsgeschehen.
Und mein Glück ist leicht zu begreifen, es handelt im Wesentlichen davon, nicht abhandenzukommen. Denn die Welt ist ein edler und sanftmütiger Traum, solange man nur schnell genug rennen kann, um nicht erwischt zu werden.
Aber diesmal bleibe ich.
Denn gerannt bin ich genug.
Und wenn ich eines gelernt habe, auf meiner Flucht, dann, dass man niemals ankommt, wenn man nicht weiß, wo man hin will.
Es fängt an zu regnen.
Die Tropfen trommeln gegen die Fensterscheibe, als wollten sie um Einlass bitten. Ich lausche auf ihre verworrenen Klänge.
Sie bestätigen meine Zeit.
In den frühen Morgenstunden, als es nicht mehr ausreicht, einfach nur stillzuhalten, als ich merke, dass mein müder Körper wieder einmal seinen Geist aufgibt und ich dabei bin, zu einer wandelnden Katastrophe zu werden, da schlüpfe ich lautlos aus dem Bett, tappe auf Zehenspitzen ins Badezimmer und halte mich auf dem Weg dorthin an der Wand, am Sofa, am Schreibtisch und am Türrahmen fest, damit ich nicht ohnmächtig zu Boden krache.
Ich sitze eine halbe Stunde in der leeren Badewanne und eine weitere halbe Stunde auf dem Badewannenrand. Dann mache ich mich auf den Rückweg ins Schlafzimmer und sinke unterwegs auf das Parkett, weil meine Beine nachgeben.
Leise rappele ich mich wieder auf und schleiche zurück in das vertraute Bett. Für ein paar Minuten noch schmiege ich mich an Chase’ warmen Körper, lausche seinem ruhigen Atem und genieße die Geborgenheit.
Chase lächelt im Schlaf.
Wie schön dieses lautlose Lächeln von ihm auf dem Bauplatz meiner Seele spielt und von einer Sekunde zur nächsten unbekannten Stunde seine Farben gegen einen makellos weißen Raum eintauscht, nur um mich noch mehr zu verwirren, in meinem Chaos aus Beständigkeit, das er so ungefragt erraten hat.
Chase blinzelt.
Er reckt sich. Dann öffnet er seine Augen.
»Hast du gemerkt, dass ich gar nicht aus dem Fenster gesprungen bin?«, frage ich ihn.
»Ja – ich sehe es«, erwidert Chase und zieht mich gähnend an sich. »Das ist gut.«
Und in dem schimmernden Sonnenlicht, das durch die orangegelben Vorhänge zu uns in das Schlafzimmer fällt, betrachte ich nachdenklich meine bleichen Handgelenke.
Narben sind Mahnmale.
Narben sind Denkmäler.
Meine erzählen Geschichten vom Davonkommen.
2
I ch denke darüber nach, dass einiges so viel leichter gewesen ist, damals, als ich sechs Jahre alt war und wusste, dass Sex etwas Schreckliches ist. Heute weiß ich das noch genauso gut wie früher: Einmal gelernt, für immer im Gedächtnis – so heißt es doch. In Biologie und Erdkunde hat das leider nie funktioniert, aber bei Vergewaltigung kann man diesen Satz mit ruhigem Gewissen doppelt unterstreichen und gleich noch ein paar Ausrufezeichen dahintersetzen.
Aber Sex ist nicht nur schrecklich.
Sex ist auch schön.
Und beides zusammen zu wissen bringt mich an den Punkt, an dem ich gar nichts weiß über Sex, egal, mit wie vielen Männern und Frauen ich schon geschlafen habe. Und wenn ich mich eines Tages durch die halbe Welt gevögelt habe und ein genaues Verständnis habe für a 2 m, AV , GV , OV , GS , TF , ZA , GB , FF , DFF , AFF , BV , DS , FA a/p, FO , FT , NS a/p (ass to mouth, Analverkehr, Geschlechtsverkehr, Oralverkehr, Gruppensex, Tittenfick, Zungenanal, Gesichtsbesamung, Faustfick, Doppelfaustfick, Analfaustfick, Brustverkehr, Dildospiele, Fingeranal aktiv/passiv, Französisch ohne, Französisch total, Natursekt aktiv/ passiv) – selbst wenn ich für all das einen theoretischen Erfahrungsorden oder einen Standard-Fickpokal ohne Extras bekomme, ich werde trotzdem nie wissen, wie sich Sex anfühlen könnte, wenn ich nie vergewaltigt worden wäre.
Ich habe so viele Männer kommen sehen, ich
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