Splitterfasernackt
die Passkontrolle gehe und aus seiner Sicht verschwinde.
15
D ie Sommerluft ist überfüllt von Marienkäfern und viel zu kurzen Regenschauern. Chase ruft mich an, um siebzehn Uhr, nicht um drei Uhr nachts, und ich starre verwirrt auf das klingelnde Handy, während mein Gehirn diese Tatsache einzuordnen versucht, denn in meiner Welt existiert Chase mittlerweile nur noch in der Zeit von Mitternacht bis in die frühen Morgenstunden.
»Schön, dass es dich gibt«, sagt er zur Begrüßung.
Und es tut gut, seine Stimme zu hören.
Chase ist der einzige Mensch auf der Welt, dessen Stimme ich vermisse. Wenn ich an ihn denke, sind es nicht die Bilder von ihm, die in meinem Kopf umherschwirren, sondern Sätze, die er einmal zu mir gesagt hat. Ich kann mich genau daran erinnern, wie er sie ausgesprochen hat, ob laut oder leise, ob mit harter oder mit weicher Stimme; wie er sie betont hat, wo er die Pausen gesetzt hat und wie er mich dabei angesehen hat.
»Was machst du gerade?«, frage ich ihn.
»Kaffee«, antwortet Chase.
Und da höre ich das wohlbekannte Mahlen und Zischen seines Kaffeeautomaten im Hintergrund, und der Duft, der mir in Chase’ Küche manchmal durch die Nase fährt, taucht plötzlich in meinen einsamen Erinnerungen auf. Das Kribbeln in meiner Nase spricht von vertrauten Wahrnehmungen, die ich mir nicht genehmigen kann, solange ich auf der Flucht bin.
»Willst du heute vielleicht bei mir übernachten?«, fragt Chase schließlich.
»Ja«, antworte ich, überrascht von mir selbst.
»Oh«, sagt Chase, nicht weniger überrumpelt. Eine Weile ist es still in der Leitung. »Dann hole ich dich um einundzwanzig Uhr ab, ist das okay für dich?«
»Ja«, antworte ich ein zweites Mal.
Und beinah lautlos schließt sich ein Kreis.
Chase steht so pünktlich vor meiner Wohnungstür, dass ich mit einem Schlag begreife, dass die Zeit nur eine von diesen Erfindungen ist, die wir Menschen gemacht haben, weil wir es leid waren, der Sonne hinterherzurennen, und weil die Erde sich nun einmal dreht und dreht und so tut, als würde es Morgen werden und dann wieder Abend. Und weil wir schlafen müssen, um aufwachen zu können.
Chase sieht ganz anders aus als in den letzten Monaten. Seine Augen sind nicht glasig, sein Lächeln ist echt, und sein Charme sprüht wie damals in unseren Kindertagen, als er mir meine erste Waldhöhle gebaut hat.
Ich bin so erleichtert, diesen Chase zu sehen und nicht den anderen, der sich manchmal in einer weiß rauschenden Nacht verliert und sich dabei so weit von mir entfernt, dass ich Angst habe, er könnte sich für immer verändern. Denn ich weiß noch, vor einigen Monaten, als es am schlimmsten war und ich ihn gefragt habe, ob es nicht vielleicht an der Zeit wäre, seine Zwischenräume neu zu definieren, da hat Chase zu mir gesagt: »Lilly – der einzige Zwischenraum, der mich wirklich interessiert, ist der, mit dem du dich begrenzt und mit dem du mich davon abhältst, bei dir zu sein. Ich dachte immer, das würdest du irgendwann begreifen.«
Schweigen.
Mein Schweigen. Chase’ Schweigen.
Allgemeines Schweigen.
Er hat mich angesehen, aus seinen zärtlichen Augen. Und ich habe mich bemüht, den Unterschied zu sehen, zwischen ihm und mir. Den Unterschied jenseits des Selbstverständlichen. Aber dann musste ich blinzeln, und der Moment war weg. Chase ist aufgestanden und hat mich alleine zurückgelassen. Alleine, auf seinem komischen rot-schwarzen Sofa, das ich nicht leiden kann, und mit den Koksresten auf dem Tisch.
Aber jetzt hebt Chase mich in die Luft und küsst mich. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, und trotzdem wechseln wir kein Wort miteinander. Vielleicht weil es so viel zu bereden gibt.
Seine Augen treffen meine, auf dieser einen Linie, auf der ich sonst immer verfehlt werde. Und wie von weit her erinnere ich mich an die erste und wichtigste Regel in meinem Leben: Lass niemals zu, dass ein Mann dich berührt, nur weil du einsam genug bist, um dir verlogene Illusionen zu schaffen. Halte dich fern von Liebe und Zärtlichkeit, denn das sind zwei Dinge, mit denen du nicht umgehen kannst, nicht heute und auch an keinem anderen Tag.
Aber vielleicht gilt diese Regel nicht für immer. Vielleicht kann ich sie mit besseren Worten überschreiben. Denn wenn Chase mich hochhebt und ich seine Arme ganz fest um meinen zerbrechlichen Körper geschlungen spüre, dann kann ich loslassen, auch wenn es nur für einen Moment ist.
Chase lässt mich zurück auf den Boden gleiten. Und
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