Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
Vom Netzwerk:
beschädigten Fassade, und außerdem starre ich dabei jedes Mal die Zimmerdecke an, als könnte sie mich erlösen; aber das tut sie nicht.
    Dafür wird mir schwindlig. Und ich verschwinde in einem Bild, hinter einem Bild, neben einem Bild, das ich von mir gemalt habe.
    Ich bin ausradiert.
    Mit Löschpapier bekleidet.
    Wie ich mich dafür verachte, einen Mann in mein Bett zu lassen. Wie ich daliege und vor mich hin glotze, so lange, bis ich Augenschmerzen bekomme und meine Lider anfangen, unruhig zu verkrampfen.
    Vielleicht habe ich das Abitur schlicht und einfach verweigert, weil ich es nicht ertragen konnte, mit so vielen männlichen Lebewesen, die jede Sekunde über mich hätten herfallen können, gemeinsam in einem Klassenzimmer zu sitzen. Denn die Weisheit, die ich als Kind aus einem Schwanz gesogen habe, sie hat mich gelehrt, dass jeder Mann, der mir begegnet, nur zwei Dinge von mir will: meinen Körper und meinen Tod. Hätte ich ein Auto und viel Geld – vielleicht auch noch das. Aber bestimmt nicht mehr.
     
    Bin ich nach all den Jahren eigentlich überhaupt noch ich? Oder bin ich inzwischen jemand anders, jemand, der nicht zählt? Weil ich die normale Zeit verpasst habe und seitdem in einer anderen lebe, einer eisigen Zeit, die unaufhörlich um sich selbst kreist und vergisst fortzuschreiten.
    Gewalt kann ich fühlen, wenigstens das. Extreme sind das Einzige, was ich kenne. Niemals lauwarm, niemals ausgeglichen, niemals halbherzig. Zärtlichkeit ertrage ich nicht, sie macht mir Angst. Warum sollte jemand zärtlich zu mir sein wollen? Das verstehe ich nicht. So etwas Kompliziertes geht einfach nicht in meinen Kopf hinein. Das ist schlimmer als jede Art von Abitur.
    Einmal hat ein Freund mich geschlagen, einmal nur, weil ich ihn gereizt habe, weil ich es darauf angelegt habe. Und der Schmerz war ganz deutlich und klar. So nah war ein Mann mir nur selten.
    Ich bin umgefallen, auf die kalten Fliesen, und er hat mich dort liegen lassen, weil er es nicht mehr ausgehalten hat, bei mir zu sein. Ich war ihm zu intensiv, zu berauschend. Er ist weggegangen. Und für einen Moment habe ich mich lebendig gefühlt. Alles war so eindringlich. Mit Nachdruck bestätigt. Mein Gesicht hat geglüht, ich habe kristallreines Blut geschmeckt, es hat gekitzelt in meinem Hals, und mein Atem hat warm über meinen Handrücken gestreichelt.
     
    Manchmal liege ich auf meinem Bett und träume mir ein ganzes Leben zusammen. Es ist nicht meins, es hat nicht sonderlich viel mit meiner Zukunft zu tun. Es ist eine völlig fremde Geschichte, die Hauptperson ist ein mir unbekanntes Geschöpf ohne Mut zum Bekenntnis. Aber die Dialogführung bestimme ich.
    Bis ich aufwache.
    Und wenn es eine lange Nacht ist, wenn mein Bett zerwühlt und teilnahmslos dasteht, dann schleiche ich mich in meine Küche, als wäre es etwas Verbotenes, und dort mache ich mir Toast mit Spiegeleiern. Das ist das Letzte, was ich gegessen habe, damals, als ich ein sechsjähriges Mädchen war. Ich weiß es noch so genau, als hätte es eine Bedeutung.
    Die Eier zischen in der Pfanne, der Toaster surrt leise vor sich hin. Ich decke schläfrig den Küchentisch, gieße mir ein Glas Orangensaft ein, warte auf das Klicken des Toasters. Dann esse ich zwei Scheiben Toast mit zwei Spiegeleiern. Den Orangensaft trinke ich in winzigen Schlucken dazu. Jeden noch so winzigen Bissen kaue ich fünfzigmal, ich muss langsam essen, damit die Zeit schneller vergeht und der neue Morgen kommt. Die Eier werden kalt, der Toast wird pappig, mein Magen knurrt vor Hunger, aber das ist egal. Ich spüle das Geschirr ab, wische den Tisch, schrubbe den Herd, obwohl er sauber ist, und schiebe eine CD in meine Anlage. Dann gehe ich ins Bad, erbreche Toast, Eier und Saft. Erst wenn mein Bauch leer ist, darf ich wieder atmen.
    Mein Körper ist dünn, an einigen Tagen verstehe ich das. Aber er ist niemals dünn genug. Man kann mich noch sehen, und das ist zu viel. Ich muss verschwinden. Keiner wird es merken. Nur Ana und Mia werden mir zum Abschied winken.
     
    Zu Ostern schenkt meine Mutter mir einen Korb, über und über gefüllt mit Schokolade. Ich halte ihn krampfhaft fest und versuche zu lächeln.
    »Lecker!«, sage ich. »Vielen Dank! Schokolade! Wow, so viel!«
    Niemals unangenehm auffallen.
    Immer die Fassade aufrechterhalten.
    Schokolade.
Er
hat mir danach jedes Mal Schokolade gegeben. Mein Leben gegen einen Schokoriegel, ein fairer Tausch. Ich habe nicht versucht zu handeln. Die Schokolade habe ich

Weitere Kostenlose Bücher