Splitterherz
während die plötzliche Nachmittagshitze auf dem Asphalt zu flirren begann, ertappte ich mich dabei, wie ich gebannt jedem der wenigen Wagen entgegenschaute, die an mir vorbeirauschten. Nein. Kein schwarzer Geländewagen. Kein Colin.
Gegenüber weideten Kühe, und wenn sich kein Auto näherte, lastete eine meditative, schwüle Sommerstille auf dem Land. Doch in meinem Kopf herrschte Krieg. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken, dass Papa womöglich meine Träume raubte. Wenn etwas mir alleine gehörte, nur mir, dann waren es meine Träume. Er konnte alles von mir haben, aber nicht das.
Endlich kam der Bus und brachte mich nach Kaulenfeld.
Den Weg von der Bushaltestelle bis zu unserem Haus rannte ich. Ich fand Mama ausnahmsweise nicht im Garten, sondern in ihrem Nähzimmer. Auf dem Boden lagen mehrere zerrissene Stoffstücke und ihre Stirn zierten kleine Schweißperlen.
»Na, Elisa«, sagte sie sanft. Elisa. So nannte mich sonst eigentlich nur Papa.
»Mama«, rief ich verstört. »Du hast gedacht, dass er mich anfällt, oder? Du dachtest, er fällt mich an! Warum hast du mir nichts gesagt, warum hast du mich nicht weggeschafft? Wie kannst du mit so jemandem zusammen sein? Wie kannst du nur!«
»Ich kann«, sagte sie bestimmt, schaltete die Nähmaschine aus und legte ihre Hände in den Schoß. Die Gartenerde hatte schwarze Ringe unter ihren kurzen Nägeln hinterlassen. Trotzdem fand ich ihre Hände schön. Praktische, geschickte Hände. Meine eigenen wirkten viel zu zart und zu blass im Vergleich zu ihren.
»Aber - du dachtest, er tut mir was! Das stimmt doch, oder?«
Mama atmete tief durch. »Nein, das stimmt so nicht. Ich hatte Angst, es könnte so sein. Aber gedacht habe ich es nicht. Das ist ein Unterschied. Ich habe überreagiert. Und ich hatte mich geirrt.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Redete sie sich am Ende alles schön oder war es tatsächlich die Wahrheit?
»Du träumst doch nachts noch, Ellie, oder?«, fragte sie mich ruhig. Ich nickte. »Und du bist nicht depressiv oder lebensmüde?«
»Na ja«, knurrte ich. »Wie man’s nimmt. Die letzten beiden Tage waren nicht gerade ein Vergnügen. Aber grundsätzlich würde ich schon gerne noch ein bisschen leben.«
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden. Ich konnte nicht mehr stehen. Das war alles zu viel für mich. Mama ließ sich neben mir nieder und nahm meine Hand.
»Du darfst mir glauben, dass Leo mir niemals etwas getan hat. Wir haben Abmachungen. Manchmal fahre ich weg, das kennst du ja. Oder ich schlafe im Nähzimmer. Lange Zeit wollte ich dich nicht mit ihm alleine lassen, auch Paul nicht. Ich hab euch immer mitgenommen - weißt du das noch?«
Ja, natürlich erinnerte ich mich an die Kurzurlaubsfahrten zu
Oma oder in die Berge, Paul und ich auf der Rückbank von Mamas knatternder Ente, bei der manchmal mitten in der Fahrt das Dach aufriss und die beim Schalten einen höllischen Lärm veranstaltete. Ich hatte es toll gefunden. Paul meistens auch.
»Aber dann habe ich es selbst immer deutlicher gesehen - dass er dich und Paul anders anschaut als mich.«
Bei diesen Worten lief mir ein Schauer über den Rücken. Wie schaute Papa Mama denn an? Gierig? Wie erkannte sie, dass sie verschwinden musste?
»Und du hast uns mit ihm allein gelassen«, rief ich vorwurfsvoll. »Oh, verdammt, Mama«, brach es wütend aus mir heraus. »Er guckt dich anders an als uns? Was tust du da überhaupt?«
»Er guckt mich nicht an wie ein Ungeheuer. Elisabeth, er ist kein Monster. Wenn man es so will, ist er krank. Er hat Probleme mit dem Schlaf. Und ich liebe ihn. Ich kann einen Menschen nicht einfach alleinlassen, nur weil er sich verändert. Viele Menschen handhaben das so, sie gehen dann, aber ich wollte und konnte es nicht. Er schaut mich nicht furchterregend an, sondern eher - schmerzerfüllt. Verstehst du? Und dann mache ich es ihm leichter, indem ich hin und wieder verschwinde, wenn diese Situationen kommen.«
»Und lässt mich mit ihm allein. Aber Colin darf ich nicht sehen. Das ist unlogisch.«
»Ist es nicht«, widersprach Mama ruhig. »Ich kenne deinen Vater. Du bist bei ihm nicht in Gefahr. Vertrau mir.«
Vertrauen. Ich hatte langsam genug von diesen ständigen Vertrauensbeweisen, die ich erbringen sollte. In Wahrheit konnte ich doch niemandem trauen.
»Wir wissen nicht, was es mit diesem Colin auf sich hat«, sagte Mama nachdenklich. »Ob er böse oder gut ist. Welche Absichten er hegt. Wir wissen nur,
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