Splitterherz
dass er Papa ...« Sie rang nach Worten.
»Erkannt hat«, sagte ich kühl. Nun, Mama hatte eben ein wenig mehr gesagt als Papa. Immerhin. Befriedigend war es aber lange nicht. Sie wussten nicht, was Colin war. Mama atmete tief ein und es hörte sich an, als bereite der Atemzug ihr Schmerzen. Sie hielt für einen Moment die Luft an und ließ sie dann langsam ausströmen. Gab es da noch etwas, was sie mir sagen wollte? Doch nun fasste sie sich wieder.
»Es bleibt bei dem, was Leo gesagt hat, Ellie. Keine Diskussion. Du siehst ihn nicht wieder. Wir vergessen ihn einfach. Wir haben doch uns.«
Ich schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Also auch Mama. Ich hatte keine Chance. Sie schloss mich behutsam in ihre Arme. Sie roch nach Erde und Blumen, ein neuer, aber beruhigender Duft. Trotzdem wand ich mich aus ihrer Umarmung, stand auf und ging zur Tür, ohne sie noch einmal anzusehen.
In meinem Zimmer tauchte ich in die Welt meiner Schulbücher ab und füllte mein Gehirn gierig mit Wissen, damit keine anderen Gedanken mehr Platz fanden. Ich war immer noch übersatt von den Pfannkuchen und sagte Mama nur kurz Bescheid, dass ich keinen Hunger hätte und oben bleiben würde. Erst als meine Augen brannten und meine Beine vom Sitzen nervös wurden, duschte ich, putzte die Zähne, ließ alle Rollläden herunter und verkroch mich ins Bett.
Mein Vorhaben, nüchtern und sachlich zu überlegen, was Colin denn nun sein könnte, scheiterte. Nein, es kam sogar noch viel schlimmer: Ich konnte mich an fast nichts mehr von dem erinnern, was ich mit ihm erlebt hatte. Ich wusste, dass da etwas gewesen war, aber die Gedanken stoben davon wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel, bis nichts mehr übrig war. Es war wie ausgelöscht.
Und doch war er da. Ganz nah. Ich spürte ihn.
Bitte nicht, nein, ich will nicht vergessen, flehte ich die verblassenden Bilder an, bei mir zu bleiben. Ich hatte Angst, einzuschlafen und am nächsten Morgen festzustellen, dass ich nicht einmal mehr Colins Gesicht heraufbeschwören konnte, und kämpfte um jede einzelne wache Sekunde.
Doch die Müdigkeit war stärker. Ich klammerte mich mit Tränen in den Augen an die letzten verschwommenen Erinnerungen und wurde gnadenlos in den tiefschwarzen Strudel des Schlafs gerissen.
Junimond
Die nächsten beiden Wochen durchlebte ich wie in Trance. Ich wusste nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte, also tat ich, was getan werden musste. Ich sah gleichgültig dabei zu, wie ich morgens zur Schule fuhr, mich mechanisch mit Maike unterhielt, meine Klausuren absolvierte und mit meinen Eltern zu Abend aß. Es wurde heiß und während der Kursarbeiten trank ich ganze Wasserflaschen leer. Es gewitterte fast jeden Abend.
Einmal schlug der Blitz in einen Baum des angrenzenden Waldes ein. Er explodierte regelrecht; die Splitter lagen meterweit verstreut. Im ganzen Dorf gab es Schäden an verschiedenen Elektrogeräten. Papa hatte sich kurz vor dem Einschlag erhoben und ich konnte sehen, wie sein Blick umherschweifte und sich seine Haare leicht aufrichteten. Er war der Einzige, der nicht zusammenzuckte, als es passierte. Ich erschrak, doch es war mir egal. Mama hingegen war so nervös, dass sie uns eine Kanne ihres scheußlichen Baldriantees kochte.
Meistens aber gewitterte es in der Ferne.
Wenn es anschließend abgekühlt hatte, lief ich noch einmal hinunter zur Kneippanlage am Bach, setzte mich auf die Bank, hörte den Grillen zu und fragte mich, warum es mich immer wieder an diesen Ort zog. Worauf wartete ich? Gab es etwas, an das mich diese Stelle erinnern sollte? Was war hier passiert? Ein quälender Schmerz erschwerte mir das Atmen und manchmal schloss ich meine Hände fest um meine Oberarme, um mir zu beweisen, dass es mich noch gab. Meine Sehnsucht stürzte ins Leere.
Die Welt um uns herum verwandelte sich in einen grünen Dschungel, nur unterbrochen von den ersten gemähten Wiesen, in deren safrangelben Überresten die Zikaden um die Wette sangen.
Was blieb, war die zerrende Wehmut, die mich vor allem nachts überfiel, wenn alles ruhte und nur ich und der Vogel am Waldrand noch wach zu sein schienen, weil ich mich mit aller Macht gegen den Schlaf wehrte. Dann lag ich in der Schwüle meines Dachzimmers atemlos auf dem Bett und fragte mich, ob der Schmerz jemals wieder milder werden würde. Vielleicht sogar verschwinden.
»Es kann uns alle umbringen«, hatte Papa gesagt. Was war »es«? Was bedeutete dieser Satz? Warum hatte er ihn
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