Splitterherz
ich hastig, bevor meine Gedanken mich wieder verließen, »würdest du dich an das Verbot halten? Oder würdest du diesen Menschen treffen?«
Oh weh, Elisabeth, mahnte ich mich. Du suchst therapeutische Beratung bei einem Mittelstufenschüler. Das kann nicht dein Ernst sein.
»Warum sollst du diesen Menschen nicht sehen? Was ist der Grund?«, fragte Tillmann sachlich. Doch genau diese Sachlichkeit ermutigte mich.
»Sie sagen, dass er gefährlich sein könnte. Sogar sehr gefährlich. Aber ich vertraue ihm.«
»Wer sind >sie«, hakte er nach.
»Meine Eltern«, seufzte ich. Tillmann überlegte nur kurz.
»Ich würde ihn treffen«, sagte er bestimmt. »Solche Entscheidungen lasse ich mir von anderen nicht abnehmen. Aber er ist kein Mörder oder so etwas?«
»Das weiß ich nicht genau«, antwortete ich zögernd. Mir wurde eiskalt. Aber es war die Wahrheit. Ich wusste es nicht genau.
Was hatte Papa gesagt? »Es könnte uns alle umbringen.« Diese Worte hatten mich jeden einzelnen Tag und jede Nacht verfolgt, obwohl ich überhaupt nicht mehr benennen konnte, in welchem Zusammenhang mein Vater sie mir eingebläut hatte. Jetzt wusste ich es wieder. Colin war der Zusammenhang gewesen. Colin, dessen Gesicht ich schon wieder vergessen hatte.
»Soll ich dich begleiten?«
»Was?« Verblüfft starrte ich Tillmann an. Da saß er selbstbewusst und wahrscheinlich Schule schwänzend auf den Treppenstufen, mit seinem drängenden dunklen Blick, und fragte mich, ob er mich zum Treffen mit einem eventuellen Mörder begleiten sollte. Das war irgendwie phänomenal. Aber auch das Falscheste vom Falschen.
»Um Himmels willen, nein, nein - ich gehe allein.«
Hatte ich das wirklich gesagt? Ich gehe allein? Bedeutete das, dass ich es tun würde - mich der Warnung meines Vaters widersetzen, um endlich zu erfahren, was es mit Colin auf sich hatte? Das war keine Bagatelle. Hier ging es nicht um eine schlechte Note oder Blaumachen oder zu spät nach Hause kommen. Andererseits wusste ich jetzt, in diesem hellen, klaren Moment, dass es Colin gegeben und uns wohl irgendetwas verbunden hatte. Doch wenn Mama und Papa mit ihren Befürchtungen richtig lagen, ging es vielleicht um mein Leben. Um unser aller Leben.
»Aber dann hätte er mich schon längst umbringen können«, murmelte ich abwesend.
»Wie? Wer hat was?« Ich schoss von den Treppenstufen hoch, traf Tillmann dabei wieder mit dem Knie, diesmal aber in die Seite, und schlug erschrocken die Hand vor den Mund.
»Was genau hast du verstanden?«, zischte ich ihn panisch an.
»Ähm - nix. Deshalb frage ich ja nach«, antwortete er und ein freches Grinsen spielte um seine Mundwinkel. »Ihr hattet Kursarbeitswoche, oder? Du wirkst ein wenig - verspannt.«
Erleichtert lehnte ich mich an das Treppengeländer und rieb mir mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hintern.
»Ja, ja. Ich muss jetzt zum Bus. Und ich werde hingehen, denke ich. Allein. Es wird schon klappen. Hoffe ich. Falls ich nicht wieder hier auftauche, dann war es nett, dich kennengelernt zu haben«, versuchte ich meine desolate Geistesverfassung mit Humor zu kaschieren.
»Wir kennen uns zwar nicht und nett ist die kleine Schwester von scheiße, aber ansonsten stimme ich dir zu«, sagte Tillmann ungerührt. Okay. So unrecht hatte Maike mit ihrer Einschätzung also doch nicht gehabt. Ich nahm ihm sein Buch aus den Händen, knallte es ihm einmal kommentarlos auf seinen Dickschädel, ließ es in seinen Schoß fallen und ging dann wortlos aus dem Foyer.
Die Busfahrt nach Kaulenfeld nutzte ich zum Nachdenken. Ich brauchte einen Plan. An Colins Gesicht konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber es hatte ihn gegeben. Wir hatten Zeit miteinander verbracht. Das hatten wir doch, oder? Ich war doch bei ihm gewesen?
Es war, als ob meine Gedanken seitlich wegstürzten und sich im Nichts auflösten. Es gelang mir lediglich - und auch das nur, während ich meine Fingernägel schmerzhaft in die Ballen meiner Handinnenflächen grub -, mich an meine Angst und an meine Schwächeanfälle zu erinnern. Die Beinahe-Ohnmacht an der Tränke. Die Bewusstlosigkeit am Bach. Die Panik während des Gewitters. Den Blitzeinschlag neben mir. Und dann spürte ich wieder das erdrückende Dickicht des Waldes um mich herum und sah die blutenden Keilerhälften vor mir im Luftzug baumeln - Bilder, die mich von ganz alleine vertrieben und meine Gedanken im Nu zerstreuten. Und schon zogen die Erinnerungen wieder davon wie Wolken im
Weitere Kostenlose Bücher