Splitterherz
immer er auch war, in Sicherheit war, weil er mich mochte, vielleicht sogar liebte? Wie kam ich auf einen solchen Schwachsinn? Nur wegen ein paar blöder Träume?
Er hatte mich nicht einmal berührt - abgesehen von seinen beiden »Wir tragen das kleine Mädchen mal von den nächtlichen Gefahren weg«-Aktionen. Das hatte aber nichts mit Hollywoodromantik gemein. Er hatte mich getragen, weil es praktischer war. Und er schickte mich ständig fort. Das war alles gewesen. Eine ernüchternde Bilanz. Und das mit den Tränen ... die Tränen? Nicht mehr als eine verrückte Eigenart?
Papas Worte schmerzten wie ein rostiges Messer, das tief und entzündlich in meiner Brust steckte. Ich hatte mich nicht nur lächerlich gemacht - er hatte überdies so hart reagiert wie noch nie zuvor. Hart und erbarmungslos. Zeigte er jetzt sein wahres Gesicht?
»Hey, alles okay mit dir?« Mein tränennasser Blick klärte sich und Maikes sommersprossiges Gesicht holte mich in die Gegenwart zurück. Es war zwei Minuten vor acht und ich stand weinend an der Schultreppe und klammerte mich am Geländer fest.
»Nein, gar nichts ist okay. Mein Vater hat mir verboten, dass ... ach... ich kann nicht drüber reden. Ich kann nicht! Ehrlich.«
Maike drückte mir ein Taschentuch in die Hand und musterte mich neugierig.
»Du warst am Samstag plötzlich verschwunden. Hat es damit zu tun?« Sie wagte ein vorsichtiges Grinsen. »Bist du mit einem Typen abgehauen?«
»So ähnlich«, murmelte ich ins Taschentuch und schnäuzte mich.
Ein paar der vorbeilaufenden Schüler guckten mich neugierig an. Zornig blitzte ich zurück.
»Es ist einfach nichts mehr so, wie es war«, fügte ich hilflos hinzu.
»Und jetzt darfst du ihn nicht mehr sehen«, schlussfolgerte Maike siegessicher.
»Genau.« Exakter: Mein Vater war ein halber Nachtmahr, und da Colin ihn erkannt hatte - warum auch immer -, durfte ich ihn nicht mehr sehen. Nicht mehr über ihn reden. Nicht mehr an ihn denken. Weil ich sonst meine ganze Familie in Gefahr brachte. Und ich würde das alles niemals einem anderen Menschen erzählen dürfen. Ich gab mich außerdem keinen Illusionen darüber hin, dass Maike das Wort Nachtmahr je gehört oder gelesen hatte.
»Na, das macht wohl jeder mal mit. Und du musst dich ja nicht dran halten«, sagte sie pragmatisch und zog mich am Ärmel vom Geländer weg, das ich immer noch umklammert hielt. Die ganze Welt kam mir an diesem Morgen vor wie eine gigantische Stolperfalle, uneben und unsicher und ohne verlässliche Pfade.
Doch Maikes kräftige Finger an meinem Arm waren eine kleine, bodenständige Rettungsinsel. Ich registrierte verschwommen, dass sie sogar auf dem Handrücken Sommersprossen hatte.
Nicht dran halten. Sie kannte Papa nicht. Ihn zu hintergehen, war für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Und es war unter Umständen viel riskanter, als ich jemals geahnt hatte. War Colin denn vielleicht so eine Art Nachtmahrjäger? Ein van Helsing der Traumräuber? Konnte er Papa für immer hinter Gitter bringen? Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass ich schon wieder an ihn dachte. Jedes Mal, wenn Colin in mein Bewusstsein stürmte und ich ihn zu verdrängen versuchte, hätte ich leise aufschreien können. Ich schluckte die Stiche, die mich zu zerreißen drohten, hinunter und wischte mir die verlaufene Mascara aus dem Gesicht - sie war ein schwacher morgendlicher Versuch gewesen, meine verweinten Augen durch eine gute Portion Kölner Schminkschule zu vertuschen.
»Magst du heute bei uns zu Mittag essen? Du könntest mir danach helfen, den Kaninchenstall sauber zu machen und neu einzurichten. Hast du Lust?«, fragte Maike freundlich und schob mich durch den übervollen Korridor.
Ach, Maike ... Kaninchenstall. Trotz meiner Trauer musste ich lachen. Ein trockenes, fast schluchzendes Geräusch.
»Okay, gut«, sagte ich. Es war allemal besser, als nach Hause zu fahren. Ich würde Mama Bescheid geben müssen, aber Papa konnte mich schlecht kontrollieren, denn er hatte bis abends in der Klinik zu tun.
An diesem Montag gelang es mir zum ersten Mal in meinem Leben nicht, dem Unterricht zu folgen.
Nach Schulschluss rief ich Mama an, während Maike geduldig neben mir wartete. Ich nannte ihr Maikes Telefonnummer und die Namen ihrer Eltern, damit sie wusste, wo ich steckte. Ich kam mir vor wie maximal sieben. Mama zögerte kurz, bevor sie mir erlaubte, später zu kommen. Ihre Stimme klang besorgt. Ich hatte das Gefühl, etwas
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