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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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gesagt?
    Mein Schlaf blieb unruhig. Mich quälten lange, aufreibende und völlig sinnfreie Träume, in denen ich etwas suchte und stattdessen andere Dinge fand, mit denen ich aber nichts anfangen konnte; Träume, in denen ich eine Klausur schreiben musste, auf die ich nicht vorbereitet war; Träume, in denen ich ständig versuchte, mich in neuen, völlig unpraktischen Wohnungen einzurichten. Wohnun­gen mit abbruchreifen Bädern, tropfenden Abflussrohren und viel zu schrägen, erdrückenden Decken.
    Doch manchmal, in den fernen, weichen Schlummermomenten kurz vor dem Morgengrauen, sahen mich aus dem Schwarz meines Schlafes Augen an, dunkel und schimmernd, so nah und echt, dass ich mich amputiert fühlte, wenn ich aufwachte. Woher kannte ich diese Augen? Wem gehörten sie? Doch die Morgensonne löste sie auf, bevor ich eine Antwort finden konnte.
    Es war Sommer geworden.
    Ich fürchtete die freie Zeit, die ich nun zu füllen hatte.
     

    Sommer
     

    Eine haarige Angelegenheit
     
    Die Kursarbeitswoche ging vorüber. Am Schlusstag, einem wolken­losen Freitag, waren alle erleichtert, redeten aufgeregt durcheinan­der, schmiedeten erste Ferienpläne - außer mir.
    Ich hatte mich geweigert, wieder in irgendein finsteres, kaltes Land zu fahren, in der Hoffnung, Mama und Papa würden allein losziehen, wie sie es früher einige Male getan hatten, wenn Paul und ich bei Oma Ferien machten.
    In Gedanken versunken stolperte ich hinter meinen Kurskamera­den die Treppe zum Ausgang hinunter und überlegte zum hun­dertsten Mal, wie ich nur die viele Zeit überbrücken sollte, die sich wie ein schwarzes Loch vor mir auftat.
    »Autsch!«, ertönte es einen Meter unter mir und ich spürte etwas Warmes an meinen Knien. Ich geriet ins Schwanken. Mühsam an­gelte ich nach dem Treppengeländer, um nicht umzukippen und auf diesen Jungen zu stürzen, der vor mir auf den Stufen saß.
    Ich ließ mich hart auf den Hosenboden plumpsen und die schnat­ternde Meute meiner Klassenkameraden an mir vorbeiziehen. Mei­ne Stirn knallte gegen das gusseiserne Treppengeländer. Mit einer raschen, fast aggressiven Bewegung drehte sich der Junge zu mir um. Es war Tillmann. Seine dunklen Augen blickten mich forsch an. Die Sonne, die hinter uns durch das Panoramafenster strahlte, ver­wandelte seine Haare in ein züngelndes Gewirr aus tausend bren­nenden Rottönen.
    »Sorry«, keuchte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Steiß mich fast umbrachte. Am liebsten wäre ich auf­gesprungen und vor Schmerzen umhergehüpft. »Hab mir wehge­tan.«
    »Kein Problem«, sagte er lässig. Er drehte sich wieder um und ver­tiefte sich in das Buch, das aufgeschlagen auf seinen Knien lag. Vor­sichtig bewegte ich meinen Hintern. Mein Steiß pochte, aber an­sonsten schien alles heil zu sein. Ich rutschte neben ihn und nahm meinen Rucksack zwischen meine Beine.
    »Was liest du da?«, fragte ich. Immerhin hatte ich ihm geholfen, da musste er mir antworten, redete ich mir ein. Stumm knetete er ein Eselsohr in die Seite, schlug das Buch zu und reichte es mir.
    »Liselotte Welskopf-Henrich - mein Gott, was für ein Name«, murmelte ich. »Nacht über der Prärie. Ein Indianerbuch?« Das war ja niedlich.
    »Keine kitschige Winnetouscheiße«, sagte er ernst. »Es geht um mehr. Um - um inneren Stolz und Ehre.«
    Ich betrachtete das Cover des Buches. Ein Indianer blickte mir entgegen, mit hohen, markanten Wangenknochen, einem verbitter­ten Mund und schwarzen, schrägen Augen, die aussahen, als könn­ten sie die Seelen anderer Menschen verschlingen. Für einen winzi­gen Moment erkannte ich einen anderen Mann in diesem Antlitz und sein Name schoss mir wie ein flackerndes Irrlicht durch den Kopf.
    Colin. Er hieß Colin. Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Doch als ich sein Gesicht festhalten wollte, war wieder nur der In­dianer da. Fremd und in sich gekehrt. Meine Erinnerung war aus­gelöscht. Doch noch wusste ich, dass es Colin gegeben hatte. Colin, beschwor ich mein Gedächtnis. Colin Blackburn. Lern es auswen­dig. Der Reiter aus dem Sumpf. Der Kämpfer aus der Turnhalle. Der Mann, der mir gesagt hatte, dass mein Vater ...
    »Stimmt was nicht?«, fragte Tillmann und deutete auf meine Hände. Ich umklammerte das Buch so fest, dass meine Fingerknö­chel weiß hervortraten. Ich ließ los und gab es ihm zurück.
    »Wenn du das dringende Bedürfnis hast, einen Menschen zu se­hen, den du nicht sehen darfst, weil andere es dir verbieten«, sagte

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