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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Sturm. Als hätte es all das nie gegeben.
    Den Rest der Busfahrt beobachtete ich stumpfsinnig eine Fliege, die immer wieder gegen die verschmierte Scheibe prallte.
    Ich fand das Haus leer vor. Papa war vermutlich in der Klinik und Mama hatte mir einen Zettel auf den Esstisch gelegt: »Bin bis abends unterwegs. Essen ist im Backofen. Sei brav!« Sei brav. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte. War es ihr nicht seltsam vorgekom­men, diese zwei Wörter zu schreiben? Für so eine Aufforderung war ich nun wirklich zu alt.
    Ohne dem Essen rechte Aufmerksamkeit zu schenken, stopfte ich es in mich hinein, bis ich satt war. Ich verstand nicht, was in meinem Gehirn auf einmal so verkehrt lief. Ich hatte mich doch immer auf meinen Kopf verlassen können. Die Kursarbeitswoche war der beste Beweis dafür. Ohne die geringste Anstrengung war mein Füller über das Papier geglitten, ja, es hatte mir sogar Spaß gemacht, die kniff­ligen Transferaufgaben zu lösen, über denen meine Klassenkamera­den grübelnd schwitzten. Für mich waren sie eher eine Erfrischung gewesen. Und nach der letzten Klausur hatte ich beinahe Lust ver­spürt, eine weitere zu schreiben.
    Wenn ich aber versuchte, auch nur einen sinnvollen Gedanken an Colin und das, was ich tun konnte, um sein Geheimnis zu lüften, zu formulieren, verkam mein Gehirn zu einer undefinierbaren grauen Suppe voller Wirrnisse.
    Gut, dafür gibt es Werkzeuge, dachte ich bissig und lief hoch in mein Zimmer. Ich nahm einen Stapel Papier aus dem Drucker, be­waffnete mich mit einem Kugelschreiber und schrieb in ordentli­chen Buchstaben » Colin « auf das erste Blatt. Colin. Das war immer­hin ein Anfang. Was für ein schöner Name ...
    Hatte es da nicht auch einen zweiten Vornamen gegeben? Einen Nachnamen? Doch ich bekam sie nicht zu fassen.
    »Was tun?«, setzte ich fahrig darunter. Das war schon schwieriger. Meine Hand zitterte. Entnervt schüttelte ich sie, um sie danach noch fester um den Stift zu schließen.
    In meinem Kopf herrschte Leere. Was tun?
    Ich lauschte versunken dem leisen Ticken meiner Armbanduhr. Gebannt folgte ich ihrem verschnörkelten Zeiger, wie er langsam über das silberne Zifferblatt wanderte. So langsam ... Sekunde um Sekunde ... Stunde um Stunde ...
    Meine Lider fielen zu und meine Stirn schlug hart auf die Tisch­kante.
    »Nein!«, rief ich zornig und sprang auf. Mit verzerrtem Gesicht unterdrückte ich das Gähnen. Es wollte meinen ganzen Körper er­schüttern. Ich biss meine Kiefer zusammen, bis sie knackten, ob­wohl das Bedürfnis, dem Nagen an meinem Gaumen nachzugeben, fast schon an Übelkeit grenzte.
    Es musste doch möglich sein, wenigstens die Idee eines Plans zu entwickeln, sie wenigstens aufzuschreiben. Wütend rannte ich ins Bad, drehte den Hahn auf und ließ das Wasser so lange laufen, bis es eiskalt ins Becken rauschte. Dann hielt ich meine Arme darunter. Dann mein Gesicht. Schließlich meinen Kopf.
    Doch meine Knie knickten ein, als ob meine Knochen sich in Glibber verwandelt hätten. Bevor ich fallen konnte, hielt ich mich am Waschbecken fest und griff nach meiner Haarbürste. Fauchend hieb ich sie mir auf die Unterarme. Die Metallborsten hinterließen kleine rote Punkte auf meiner Haut, doch der Schmerz war nicht stark genug, um die Schläfrigkeit vollends zu vertreiben.
    »Diesmal nicht«, knurrte ich zornig und hangelte mich wieder nach oben. Noch einmal tauchte ich mein Gesicht ins Wasser. Dann rannte ich zurück in mein Zimmer und riss jedes einzelne Fenster auf. Der Wind schien von allen Seiten zu kommen. Ein kleiner Sturm entstand, mitten im Raum, und ließ mein Sommerkleid flat­tern. Widerborstig streckten sich meine feuchten Haare in den Luft­zug.
    Ich presste die Handflächen gegen meine nasse Stirn. Nur einen Gedanken. Einen einzigen klaren, vernünftigen Gedanken ... Ein kaum wahrnehmbares Kratzen und Wispern ließ mich herumfah­ren.
    Aus meiner Kehle löste sich ein panisches Wimmern. Es war nicht nur eine. Es waren mehrere. Mindestens ein Dutzend. In einer ent­setzlich hässlichen, haarigen Armee krochen ihre fetten Leiber un­aufhaltsam auf mich zu; zählen konnte ich sie nicht, weil der Ekel mich lähmte. Spinnen. Große, langbeinige Spinnen, die sich aus dem zum Wald hin geöffneten Fenster in mein Zimmer ergossen und offenbar nur ein Ziel kannten: mich. Meine Haut.
    Meine persönliche Horrorvision wurde wahr. Jetzt geschah es tat­sächlich. Noch war ich bei Bewusstsein, aber nicht mehr in der Lage, mich zu

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