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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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rühren. Ich konnte mich einfach nicht bewegen und muss­te versteinert dabei zusehen, wie die letzte Spinne mit zitternden Beinen vom Fensterbrett fiel und zielstrebig auf mich zuhastete.
    »Papa«, schluchzte ich trocken auf und wünschte mir wie ein klei­nes Kind meine Eltern herbei. Papa? Moment - es gab nur einen einzigen Menschen, dem ich jemals von dieser Horrorfantasie er­zählt hatte. Meinen Vater. Und das hier war nicht nur die Umset­zung meines persönlichen Albtraums, nein, es war eine zigfache Multiplikation. Es war Manipulation. Und es sollte mich von Colin abhalten.
    »Papa!«, rief ich noch einmal, aber nicht mehr schluchzend, son­dern drohend, und löste mich aus meiner Starre. Während sich draußen der Himmel jäh verdunkelte, hatte die erste Spinne meine Zehen erreicht und strich tastend mit ihren haarigen Beinen über meine Nägel. Ich war ein schlotterndes, heulendes Bündel aus Panik und Ekel, doch vor allem war ich unglaublich wütend. Ich hatte die Nase voll von diesem Hokuspokus.
    »Na, dann kommt doch! Kommt!«, schrie ich und fuchtelte wie von Sinnen mit den Armen. »Hier, bitte!« Ich riss mir das Kleid vom Körper, sodass ich nur noch in BH und Slip im Zimmer stand. »Da, nackte Haut. Klettert doch drauf, ihr doofen, hässlichen, verschlisse­nen Spinnen!«
    Ich schüttelte meine Haare und breitete sie mit den Händen auf meinem Rücken aus.
    »Oder hier - Haare. Baut euch Nester. Pflanzt euch fort. Von mir aus!«
    Wenn mich jetzt jemand fand, war mir eine Isolierzelle in der Ge­schlossenen sicher. Aber das war mir egal. Eine Spinne kroch hek­tisch mein rechtes Bein hinauf. Ich hielt meine Hände fest, um sie nicht hysterisch fortzuwischen.
    »Ich hab keine Angst vor euch«, heulte ich. »Ihr könnt mir Colin nicht nehmen. Ich vergesse ihn nicht. Und ich schlafe auch nicht ein! Diesmal nicht!«
    Mit lautem Klappern schlugen meine Zähne aufeinander, aber meine Wut hielt mich fest im Jetzt. Ich blieb wach und ich blieb bei Bewusstsein. Ungläubig beobachtete ich, wie einige Spinnen kehrt­machten und über das Fenstersims zurück auf das Dach huschten. Immer mehr folgten ihnen, nach draußen, wo der Himmel pech­schwarz geworden war und der Donner drohend grollte.
    Schluchzend brach ich auf dem Boden zusammen. Irritiert ließ die verbliebene Spinne sich von meinem Bein fallen und suchte Zu­flucht unter einem der Flickenteppiche. Eine andere huschte im Zickzack über meinen nackten Arm und verschwand zwischen den Bodendielen.
    Regen ergoss sich durch die offenen Fenster und der Wind wirbel­te die unbeschriebenen Blätter auf meinem Schreibtisch in die Luft.
    Der nächste Donnerschlag ließ urplötzlich ein mächtiges Bild in meinem Kopf erbeben, so klar und logisch, dass ich zum Schreib­tisch hechtete und ihn nach dem Kugelschreiber durchwühlte. Kra­chend fielen Bücher und CDs herunter. Ich kniete mich auf den Boden, griff mir eins der umherwirbelnden Papiere und strich es glatt. Ich war nie besonders kreativ in Kunst gewesen, meistens war mir nichts Originelles eingefallen. Aber zeichnen konnte ich. Ich konnte gut wiedergeben, was ich einmal gesehen und mir einge­prägt hatte.
    Ein Rund nach dem anderen wanderte auf das Papier. Vier, fünf, sechs. Es waren Ringe. Silberringe. Der oberste war leicht zur Seite gekippt - und entblößte ein spitz zulaufendes Ohr.
    Während sich draußen krachend Blitze entluden und der herein­strömende Regen meinen Rücken durchnässte, fügte sich unter meinen kalten Händen Colins Profil zusammen. Nase, Mund und Haare deutete ich nur an. Dann ließ ich den Stift fallen und stand auf. Triumphierend wedelte ich mit der Zeichnung.
    »Ja. Das habe ich gesehen. Genau das!«, rief ich und lauschte, ob nun irgendetwas explodieren würde oder eine Windhose ins Zim­mer rauschte, um mich zu strafen.
    »Und verflucht noch mal, Menschen haben keine spitzen Oh­ren!«
    Mein Gehirn - es arbeitete wieder. Schnell, mahnte ich mich. Nutz es aus, bevor es zu spät ist. Exakt wie eine Landkarte sah ich den Weg zu Colins Haus vor mir und kritzelte ihn rasch auf ein anderes der weißen Papiere, die den Boden bedeckten. Ich fügte »Morgen Abend, während der Dämmerung« hinzu - denn meine Eltern woll­ten Freunde besuchen -, faltete beide Blätter zusammen und stopfte sie in meinen BH. Dort würde sich Papa wohl kaum zu schaffen machen.
    Jetzt erlaubte ich mir zu schlafen. Ich torkelte noch einmal zu den Fenstern, um wenigstens drei von ihnen zu schließen.

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