Splitterherz
Bauch gesehen - das war die eine Sache. Über die kam ich gerade noch hinweg. Aber sich in meinen Körperschmuck einzumischen - nein, das ging zu weil.
»Ich weiß nicht, warum du dich so aufregst«, sagte er, bevor ich meinem Ärger Luft machen konnte. »Du wolltest es doch gar nicht haben.« Jetzt fehlten mir erst recht die Worte. Wie kam er dazu, so etwas zu behaupten? Er kannte mich doch überhaupt nicht.
»Ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich mit meinem Körper anstelle«, murmelte ich schließlich. Es klang wenig glaubhaft.
»Nicht? Dann frage ich mich, warum du es dir hast stechen lassen. Gute Nacht, Ellie. Träum schön.«
Ein eisiger Lufthauch streifte meinen Nacken. Noch nie hatte ein Mann so etwas zu mir gesagt. Träum schön. Mit wackeligen Knien stieg ich aus dem Auto. Colin zog überraschend schnell die Beifahrertür zu und brauste davon. Ein Déjà-vu. Ich grub in meinem Hirn nach Erklärungen. Eine zuschlagende Tür ... ein davonjagender schwarzer Wagen ... das hatte ich doch schon mal erlebt. Aber wieder war es, als würde jemand mein Erinnerungsvermögen stehlen. Ich konnte mich nicht entsinnen.
Vor mir hüpfte mit einem feuchten Klatschen eine Kröte über den Feldweg. Ich ging in die Hocke und sah sie mir an. Ihre dicken Backen bewegten sich rhythmisch und ihre goldenen Augen schienen genau zu wissen, wohin sie sich richten mussten. Durch den Staub zum Wasser. Es musste bewundernswert einfach sein, das Leben einer Kröte zu führen. Winterschlaf, wandern, ablaichen, wandern, Winterschlaf.
Kopfschüttelnd schloss ich die Haustür auf.
»Ellie, endlich!« Mama erwartete mich schon im Flur, die Arme voller zusammengefalteter Umzugskartons. »Was war denn los, warum kommst du so spät?«
»Frag nicht«, bat ich sie seufzend. Ich hatte plötzlich große Lust zu heulen. »Lass mich bitte in Ruhe.« Mama musterte mich nachdenklich und zuckte dann gleichmütig mit den Schultern. Ja, klar, Spätpubertät.
Was für ein chaotischer Abend. Konnte hier nichts normal ablaufen? Musste es immer in einer Blamage, Halluzinationen oder dem Beinahe-Tod enden? Ich setzte mich ins Wohnzimmer und schaltete testweise den Fernseher an - wow, ein echtes Bild. Mama hatte die Sache mit der Satellitenschüssel wohl endlich selbst in die Hand genommen. Papa hätte es nie getan. Er hasste Fernsehen.
Ich stellte die Lautstärke niedrig ein, schlurfte in die Küche und schob eine Tiefkühllasagne in den Ofen. Eine entspannende Müdigkeit kroch in meine Muskeln und dämpfte die Schmerzen in meinen Schultern und Knien. Ich zappte mampfend durch die Kanäle, doch nichts interessierte mich. Dabei hatte ich früher zusammen mit Nicole und Jenny ganze Abende vor dem Fernseher verbringen können. Früher ... Mein altes Leben lag gerade mal fünf Tage zurück. Doch das konnte ich ebenso wenig glauben wie die Tatsache, dass Colin sich meiner erbarmt und mich nach Hause gefahren hatte.
Wo er wohl wohnte? In einer Villa? Mit Bediensteten und einem salongroßen Marmorbad? Was machte er hier auf dem Land? Seinem Akzent nach zu urteilen, stammte er nicht von hier.
Meine tausend unbeantwortbaren Fragen wurden leiser, sobald ich mich ins Bett legte und auf das tiefe Grau der Vorhänge schaute. Doch Ruhe fand ich keine. Ich spürte das Piercing in meinem Hauchnabel so deutlich, als sei es gerade erst gestochen worden. Und verdammt, das hatte richtig wehgetan.
»Okay, bitte schön, du eingebildeter, arroganter Saftsack«, fauchte ich, schleuderte das Bettzeug weg und stapfte ins Badezimmer. Vor diesem Augenblick hatte ich mich immer gefürchtet. Mindestens ebenso wie vor dem Stechen selbst. Mit bebenden Fingern fummelte ich an dem silbernen Ringelchen herum, das ich mir vor einem Jahr hatte aufschwatzen lassen und widerwillig bei meinen Eltern durchsetzte. (Papas einziger Kommentar: »Es ist dein Körper.«) Das war so ein Mädchending gewesen; wir wollten uns alle drei gemeinsam piercen lassen, natürlich nicht irgendetwas, sondern anders als die anderen. Letztlich sind aber auch Piercings kreative Grenzen gesetzt und so entschied ich mich für einen kleinen Silberring mit Brilli im Bauchnabel und brauchte Wochen, um mich an das Ding zu gewöhnen.
Aber als ich mich endlich daran gewöhnt und der Bauchnabel wieder eine normale, gesunde Farbe angenommen hatte, ließ ich wohlweislich meine Finger davon, um den Frieden nicht zu stören. Der Ring gehörte eben zu mir, ohne jemals einen Sinn erfüllt zu
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