Splitterherz
war schlichtweg furchtbar.
»Was mache ich jetzt nur?«, wisperte ich. Ich schaute mich suchend um. Vielleicht fand ich auf dem Schwarzen Brett ja irgend- einen Hinweis auf ein spätes Training - und damit auch darauf, dass die Tür sich wieder öffnen würde. Doch an dem zerbröselten Korkbrett haftete lediglich ein kleiner Waschzettel: »Sondertraining für alle männlichen Violett- und Braungurtträger mit Colin Blackburn jeden zweiten Mittwoch im Monat von 18.00 bis 20.30 Uhr.« Jeden zweiten Mittwoch. Heute war Mittwoch. Der zweite Mittwoch im Mai. Dann war das da unten also Colin Blackburn? Und nutzte die Gunst der Stunde, um viel Platz für sich allein zu haben?
Mit weichen Knien kauerte ich mich auf den abgenutzten Linoleumboden. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als auf diesen Widerling namens Blackburn zu warten und darauf zu hoffen, dass er mir die Tür öffnete. Mein Frieren verwandelte sich in ein unkontrollierbares Zittern. Aus der plötzlichen Panik heraus, er könne mich bemerken, tastete ich nach den Lichtschaltern und bereitete dem Flackern der Neonröhren ein Ende. Ich schluchzte trocken auf.
Okay, Ellie. Nicht heulen. Bloß nicht heulen, beschwor ich mich in Gedanken. Ich hatte es oft genug trainiert. Atmen. Schlucken. Atmen. An etwas anderes denken. Mich auf die unmittelbare Gegenwart konzentrieren. Sinneseindrücke sammeln. Gut, dann würde ich nun einen vorsichtigen und möglichst unbemerkten Blick auf meinen Feind und einzig möglichen Retter werfen. So leise wie möglich kroch ich hinüber zum großen Galeriefenster. Doch schon auf halber Strecke beschlich mich das ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehte mich um. Hinter mir herrschte vollkommene Leere. Kopfschüttelnd schob ich mich weiter bis zu den Fenstern und äugte hinunter. Ich konnte den Fremden im Dämmerlicht der Halle kaum mehr erkennen. Nur schwach hob sich sein Anzug von den nachtgrauen Wänden ab. Anfangs sah ich seinen Schatten nur schemenhaft durch den Dojo gleiten. Dann, nach einigen Minuten des Ausharrens auf steifen Knien, wurde es besser.
»Boah«, raunte ich staunend, als er lautlos abhob und zweimal in der Luft um die eigene Achse wirbelte, um dann im Spagat auf dem Boden zu landen - eine Haltung, aus der ich mich nie wieder hätte erheben können. Doch mit einer einzigen schwebenden Bewegung kam er auf die Füße und brachte seine Arme schnell, aber ruhig in die Ausgangsposition, einen Arm angewinkelt an den Leib gezogen, den anderen ausgestreckt. Er war kein bulliger Kraftprotz. Seine Gliedmaßen waren lang und schlank, aber es spielten harte, unbeugsame Muskeln unter seiner hellen Haut.
Er mochte ja ein Scheusal sein, doch was ich sah, war unbeschreiblich schön. Ein rätselhafter, verwobener Tanz voller Energie und Versenkung, der Gegner erzittern und Bewunderer strahlen lassen musste.
Das hier war kein hektisches Gefuchtel. Das war Magie.
Allerdings war es eine Magie ohne Gesicht. Wenn er sich drehte in seinem Schattenkampf, dessen Gesetze nur er kannte und beherrschte, tat er es so schnell, dass ich keinen Blick auf sein Antlitz erhaschen konnte. Und wenn er verharrte - ein Verharren, bei dem nicht ein Atemzug, nicht eine Unsicherheit zu erkennen war -, dann immer mit dem Rücken zu mir.
Geh weg, du darfst hier nicht sein. Er möchte das alleine tun, wirklich alleine, sagte ich mir immer wieder. Doch ich blieb, obwohl meine Knie auf dem kalten Boden schmerzhaft zu pochen begannen. In mir bohrte eine ferne Sehnsucht, auch nur irgendeine Sache in meinem Leben mit solcher Versunkenheit und Passion tun zu können. Damit sie wirklich nur mir gehörte. Ich war sogar einen Moment lang versucht, mich nicht mehr über seinen Rausschmiss zu ärgern.
»Wenn ich dir nur weiter zuschauen darf«, sprach ich meine Gedanken wispernd aus. Colin erstarrte und drehte sich um. Ich wusste nicht, wie das möglich war - doch er musste mein Flüstern gehört haben. Bevor er mich sehen konnte, ließ ich mich platt auf den Boden fallen und kroch geduckt vom Fenster weg. Ich hielt den Atem an. Diese Bewegung hatte ich schon einmal gesehen. Ein jähes Wenden des Kopfes, stolz und unnahbar, während die Schultern völlig unbeweglich blieben. Obwohl ich noch immer nicht sein Gesicht gesehen hatte, wusste ich mit einem Mal, dass beide ein und dieselbe Person waren: der fremde Reiter aus dem Wald und der einsame Kämpfer dort unten, der soeben mit der Dunkelheit verschmolzen war.
Colin
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