Splitterndes Glas - Kriminalroman
gesteckt und wurden noch einer genaueren Analyse unterzogen.
Die ersten Untersuchungen zeigten, dass das Blut in der Dusche mit Bryans und nur mit Bryans Blut übereinstimmte. Wenn er sich gewehrt hatte, so gab es dafür keine der üblichen körperlichen Anzeichen wie etwa Hautpartikel unter den Fingernägeln. Als wäre es Bryans Angreifer gelungen, dachte Will, ihn vollkommen zu überrumpeln.
Aber wie?
Hatte er sich ohne Bryans Wissen Zugang zum Haus verschafft und war die Treppe hinaufgestiegen, um Bryan nackt und nichts ahnend anzutreffen, sodass er ihm ausgeliefert war? Wenn das der Fall war, lag die Vermutung nahe, dass der Täter im Besitz eines Schlüssels gewesen war, da es keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens gab. Das alternative Szenario war, dass der Täter bereits im Haus gewesen war und Bryan ihn im Wohnzimmer zurückließ, um zu duschen. Was an sich schon etwas über die Beziehung zwischen den beiden aussagte. Nicht unbedingt ein Liebespaar, dachte Will, aber zwei Menschen, die sich recht gut kannten und unbefangen miteinander umgingen.
Trotz seiner Beteuerungen konnte man sich Mark McKusick gut in beiden Versionen der Geschichte vorstellen.
Paul Irving fungierte im Fall Bryan als Kontaktperson zur Familie des Opfers, und es war seine Aufgabe, McKusick zu begleiten, als ihm Stephen Bryans Leiche gezeigt wurde. Irving war ein schlanker Mann mit Brille, hellbraunen Haaren und einem zurückhaltenden Gesichtsausdruck, der leicht als verständnisvoll interpretiert werden konnte. |37| Vom Aussehen abgesehen war sein größter Pluspunkt als Familienkontaktbeamter vielleicht seine Stimme, die tief und warm war und die er unter anderen Umständen hätte einsetzen können, um Toilettenpapier oder Versicherungen zu verkaufen.
Will hatte ausdrücklich gewünscht, anwesend zu sein, aber wenn er erwartet hatte, McKusick würde zusammenbrechen und etwas Entscheidendes verraten, so wurde er enttäuscht. Beim Anblick der Leiche seines früheren Liebhabers kamen McKusick ohne große Schwierigkeiten die Tränen, aber das war alles; obwohl er offensichtlich erschüttert war, gab es kein theatralisches Getue, keine Selbstgeißelung. Stattdessen schloss McKusick mehrere Minuten lang die Augen und seine Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet, wie Will vermutete. Dann drehte er sich um und ging mit gesenktem Kopf hinaus.
Irving sah zu Will und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe, Will zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Später sollte Irving Bryans Familie am Bahnhof treffen und dabei sein, wenn den Eltern eine Leiche gezeigt wurde, die kaum als ihr Sohn zu erkennen war.
»Na ja«, sagte Irving, »man kann nicht direkt sagen, dass er zusammengebrochen wäre und gestanden hätte.«
»Ich möchte zu gerne mal erleben, dass das passiert.«
»Wie läuft es denn so?«
Will zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. »Was soll man sagen. Langsam?«
Die Befragungen von Haus zu Haus hatten bislang wenig ergeben: Stephen Bryans Nachbarn waren Leute, die zurückgezogen lebten, die Augen auf die Bildschirme ihrer Heimcomputer geheftet oder – in Anbetracht der demografischen Daten der Gegend – auf die Dokumentarfilme, die |38| gerade auf BBC 4 liefen. Niemand hatte zu der fraglichen Zeit etwas Verdächtiges bemerkt; niemand hatte gesehen, was Will gerne hören wollte: Stephen Bryan, der das Haus in Begleitung eines weiteren Mannes betrat, sei es McKusick oder ein noch Unbekannter. Sie hatten auch niemand anderen als Bryan das Haus verlassen sehen.
Will und Helen hatten gemeinsam oder allein erste Gespräche mit Bryans früheren Kollegen an der Universität geführt: Obgleich Bryan noch neu und nicht besonders gut bekannt war, hatte man ihn allgemein gemocht und als jemanden respektiert, der seine Kurse gewissenhaft vorbereitete und seine Pflichten im Institut ernst nahm. Nach allem, was man hörte, hatten seine Studenten positiv auf seine Art und seinen Unterricht reagiert.
»Hast du auch manchmal das Gefühl«, fragte Will, als sie vom Campus fuhren, »dass du eigentlich nirgendwo ankommst, egal, wie weit du läufst?«
Helen sah ihn spöttisch an, als wäre die Frage einer Antwort nicht würdig.
»Konzentrieren wir uns eigentlich auf McKusick?«, erkundigte sich Helen.
Da sie auf dem Parkplatz des Reviers keinen freien Platz gefunden hatten, suchten sie sich einen in der Nähe.
»Bis mir jemand einen besseren Verdächtigen zeigen kann, ja«, sagte Will.
Helen ließ eines der
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