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Splitterndes Glas - Kriminalroman

Splitterndes Glas - Kriminalroman

Titel: Splitterndes Glas - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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eine Hand immer noch am Lenkrad. Dort, wo die Stadt war, klammerte sich ein Kreis aus gelbem Licht eng an den Horizont, wurde fast völlig von der Dunkelheit verschluckt. Er dachte an seinen Sohn: alles, was er je gewollt hatte. Er saß da, bis ihm die Kälte tief in die Knochen kroch.
    Als er Stunden später ins Haus zurückkehrte, war alles still, keine Lichter brannten, weder unten noch oben. Er hatte erwartet, Lorraine wäre im Bett, aber sie war im Wohnzimmer, saß mit angezogenen Beinen einfach da.
    |45| Will schaltete das Licht an.
    Ihr Gesicht war farblos, ihr Haar straff zurückgekämmt. »Mach das Licht aus.«
    Er machte es aus.
    Nach einem Augenblick schwang sie die Beine vom Sofa und kam langsam auf ihn zu.
    »Es tut mir leid«, sagte er.
    Sie schlug ihm fest ins Gesicht.
    »Wirklich.«
    Sie schlug ihn wieder, einmal, zweimal.
    Blut rann von seiner Oberlippe nach unten, er konnte es im Mund schmecken.
    »Lorraine   …«
    Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber sie zog sie weg, und sie standen da, in Stille gehüllt, sprachen nicht, berührten sich nicht, bis sie schließlich nach oben und ins Bett gingen.

4
    Als Will aufwachte und nach unten ging, war es eher drei als vier. Draußen im Licht unter dem Vordach sah er Schneeflocken träge durch die Luft schweben und im selben Augenblick verschwinden, in dem sie den Boden berührten.
    Etwas hatte ihn aufgeweckt, und er fragte sich, was es gewesen war. Wieder der Fuchs, der wild umherschweifte? Hungrig und wild.
    In solchen Zeiten dachte er nicht oft an Helen, aber jetzt tat er es. Er überlegte, ob sie auch wach war. Allein. Vor einer Weile hatte es einen Mann gegeben, obwohl Will ihn nie kennengelernt oder gehört hatte, dass Helen seinen Namen erwähnte. Aber trotzdem hatte er es irgendwie |46| gewusst. Durch flüchtigste Bemerkungen, ein paar kleine Änderungen in ihren Gewohnheiten. Und dann war er nicht mehr da. Weggeschickt? Weggegangen? Will wusste es nicht. Er fragte nicht.
    Alles nahm wieder seinen gewohnten Lauf.
    An einem Abend vor Weihnachten, als Helen zum Essen bei ihnen gewesen war – nichts Aufwendiges, Lasagne und dann Eis aus der Gefriertruhe   –, hatte Lorraine ohne Hintergedanken eine Bemerkung gemacht – eine Frage gestellt, wie Will das sah   –, bei der es um einen Freund oder Partner ging. Will konnte sich nicht an den Ausdruck erinnern, den sie benutzt hatte, auf jeden Fall hatte Helen Anstoß genommen, war böse gewesen und hatte die Lippen fest zusammengepresst.
    Ohne zu wissen, warum, hatte er behauptet, es nicht bemerkt zu haben, als Lorraine ihn später darauf ansprach.
    Der Schnee oder der Anflug von Schnee hatte aufgehört zu fallen. Lorraine und die Kinder waren oben in ihren jeweiligen Betten und schliefen.
    Will blieb noch ein paar Minuten stehen, bevor er das Licht ausschaltete und wieder hineinging.
     
    Für McKusick waren die Tage seit Stephen Bryans Tod nicht leicht gewesen: Träume, Albträume, Erinnerungen an Stephens zerstörtes Gesicht. Bedauern. Jede Menge Bedauern.
    »Es kann helfen, mit jemandem zu sprechen«, hatte Paul Irving gesagt, der für den Kontakt zu den Angehörigen zuständige Beamte. »Mit jemandem, der ihn gut gekannt hat.«
    Er hatte Stephens Eltern angerufen, aber eigentlich eher, weil er sich dazu verpflichtet fühlte, weil alle sehen sollten, dass er das Richtige tat. Die Unterhaltung mit Stephens Mutter war jedoch gestelzt gewesen, unterbrochen von |47| langem Schweigen. Der Vater hatte sich geweigert, ans Telefon zu kommen. Natürlich hatten sie Stephen gar nicht richtig gekannt, wie McKusick bewusst wurde, nicht seit er von zu Hause weggegangen war; sie hatten ihn eigentlich überhaupt nicht gekannt. Als sich Stephen voll zu seiner Orientierung bekannte und schließlich seinem Vater klargemacht hatte, dass er schwul war, war in den Augen des älteren Mannes ein Licht erloschen. »Stephen, das tut mir leid«, hatte er gesagt, als hätte sein Sohn ihm gerade erzählt, er habe einen Gehirntumor.
    »Wollen Sie die Eltern treffen?«, hatte Paul Irving gefragt. »Wenn sie herkommen?«
    McKusick hatte abgelehnt.
     
    »Sie sehen nicht besonders gut aus, Mark«, hatte McKusicks Chef am Morgen, nachdem er die Leiche gesehen hatte, gesagt. »Warum nehmen Sie sich nicht eine Auszeit?« Das Letzte, was McKusick wollte, war noch mehr Zeit allein. Das wollte er genauso wenig wie ein erneutes Auftauchen von Will und Helen. Aber natürlich kamen sie in den Laden und fragten nach ihm.
    Sie saßen in

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