Splitterndes Glas - Kriminalroman
kannte sie sie auswendig. Sie kam bis zur letzten Ziffer, bevor sie abbrach.
Du Idiotin, dachte sie, du Dummkopf, zündete sich eine Zigarette an und goss sich noch ein Glas Wein ein.
Will stand draußen unter dem niedrigen Vordach aus Holz, die Hände in den Taschen seines Wintermantels vergraben, den Schal fest um den Hals gewickelt. Als Lorraine schließlich vor dem Fernseher eingeschlafen war, nachdem die Kinder oben auch schon tief und fest schliefen, hatte er |42| einen flotten Spaziergang zum Moor gemacht, und jetzt, zum Haus zurückgekehrt, stand er ganz still da und sah auf die dunklen Felder, die sich in Richtung der acht oder neun Meilen entfernten Stadt erstreckten. Es war auf eine Weise still, wie es in der Stadt nie gewesen war, und über ihm standen mehr Sterne am Himmel, als er je gesehen hatte. Ihre ersten sechs Monate hier waren die Hölle gewesen.
Will hatte sich unentwegt über die Fahrerei beschwert, über die Zeit, die er zur Arbeit und zurück brauchte, über die idiotischen Autofahrer auf der Strecke; wenn er schließlich am Ende eines zermürbenden Tages nach Hause kam, war sein Sohn meistens schon im Bett und schlief. Und Lorraine, die Jake noch stillte, litt unter ihren Hormonen, sie war erschöpft und fühlte sich von ihren Freunden verlassen und von der Hilfe, die sie von ihnen bekommen hätte, abgeschnitten.
»Du bist derjenige, der uns hierhergeschleppt hat«, hatte Lorraine gesagt. Schon wieder so ein Abend, an dem Will fast eine Stunde später als versprochen nach Hause gekommen war und gestöhnt hatte, während das Essen im Ofen verbrutzelte.
»Red nicht so einen verdammten Unsinn«, hatte Will entgegnet und seine Schuhe abgestreift. »Du wolltest doch umziehen. Du hast darauf gedrängt.«
»Aus der Stadt raus, ja. Irgendwohin, wo es schön ist. Aber nicht in ein so gottverlassenes Loch wie dieses hier.«
»Dieses gottverlassene Loch, wie du es nennst, war aber alles, was wir uns leisten konnten.«
»Dann hätten wir vielleicht bleiben sollen, wo wir waren.«
»Wenn du das so schön fandest, zieh doch dahin zurück.«
»Und du? Was würdest du tun? Hierbleiben?«
|43| »Vielleicht.«
Lorraine stieß ein lautes unfrohes Lachen aus. »Und Jake? Was ist mit Jake?«
Will schob sich an ihr vorbei und zog auf der Suche nach einem Bier die Kühlschranktür auf.
»Also?«, sagte sie beharrlich. »Welche Rolle spielt Jake in deinem großartigen Plan? Er wird ja nicht hier bei dir bleiben.«
»Um Gottes willen, Lorraine, hör auf.«
»Nein, komm schon, sag’s mir.«
Will knallte die Kühlschranktür zu. »Du gibst einfach keine Ruhe, oder?«
»Wieso?«
»Bei allem. Bei jeder verdammten Kleinigkeit. Nörgel, nörgel, nörgel. Du weißt einfach nicht, wann du aufhören musst.«
»Aber du?«
Er schnippte den Verschluss der Dose auf und stürmte an ihr vorbei zur Tür.
»Aber du weißt es, Will?«
Er drehte sich um und knallte das Bier hin. »Ja, verdammt noch mal!«
Ein Augenblick später war er auf der Treppe und nahm zwei oder drei Stufen auf einmal. Als Lorraine, die ihm nachgegangen war, die Schlafzimmertür aufmachte, schob er Sachen in eine Tasche: Hemden, Hosen, Socken, irgendwas.
»Was machst du?«
»Wonach sieht es denn aus?«
»Ziehst du eine Show ab?«
»Ach, ja?« Er griff nach einem Hemd und warf es nach ihrem Gesicht. »Sieht das nach einer verdammten Show aus?«
|44| »Das würdest du nicht wagen.«
»Nein?«
»Uns beide zu verlassen, dazu hast du keinen Mumm.«
»Na, dann sieh mal.« Er griff nach der Tasche und ging zur Tür.
»Will …« Seine Schritte auf der Treppe waren schnell und schwer. »Will …« Er warf die Tasche auf den Rücksitz des Wagens und kauerte sich hinter das Steuer. »Will, wag das nicht!«
Die Wagentür fiel knallend zu, der Motor kam ruckartig in Bewegung.
Er konnte ihr Schreien gerade noch verstehen, ihr Gesicht vor der Scheibe war nur ein paar Zoll von seinem entfernt. »Wenn du das tust, will ich dein Gesicht nicht mehr sehen. Nie wieder.«
Die Räder drehten einen Augenblick auf dem Kies durch, dann griffen sie. Im Licht unter dem Vordach gefangen, erschien sie für ein paar Sekunden in seinem Rückspiegel, dann war sie weg.
Als Will die Hauptstraße erreichte, wurde ihm klar, dass er viel zu schnell fuhr; er besann sich und verlangsamte sein Tempo. Dann bog er in eine Seitenstraße ab – nicht mehr als ein Feldweg –, hielt unter einer niedrigen dunklen Scheune und blieb zitternd im Auto sitzen,
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