Splitternest
Pradan-Anuf blies glühend die Stufen hinab, und Baniter schritt weiter, Stufe für Stufe, voller Sehnsucht nach dem Licht und der Freiheit.
Bald fand er den Ausgang; ein Korridor, der zu weiteren Treppen und Räumen führte. Die Burg stand leer, doch sie war kaum zerfallen. Baniter erinnerte sich daran, wie er zu ihr aufgeblickt hatte, als er mit der Gesandtschaft den Yanur-Se überquert hatte. Nun trat er durch einen Torbogen nach draußen und blickte von oben, von der Stirn der Zornigen, auf jenen Pass hinab.
Die Sonne stand tief; sie musste erst vor kurzem aufgegangen sein. Vor dem Hang, der zur Burg emporführte, lag der Pfad, den Baniter damals entlanggeschritten war; und noch tiefer, am Fuß des Gebirges, krümmte sich der Nesfer, der heilige Fluss der Arphater. Die Dächer von Praa schimmerten im Sonnenlicht: prunkvolle Tempel, reiche Paläste, und die riesige Stufenpyramide, das Aru’Amaneth …
Aber die Stadt war verlassen. Mit Abscheu betrachtete Baniter die peitschenden Ränke, die aus dem Fluss wucherten, die blaßgrünen Triebe, die aus den Gassen emporwuchsen. Die Stadt aus Gold und Eisen war kaum zu erkennen unter dem wilden Gestrüpp, halb versunken im Schlamm des Nesfers. Schlingpflanzen, armdick und mit Dornen besetzt, krochen an den Hauswänden entlang und zersetzten das Gestein. Und aus dem vertrockneten Flussbett ragten die Wurzelstrünke des Keims, der Praa zerstört hatte.
Die Wispernden Felder waren entfesselt. Die Quelle hatte sich zurückgeholt, was die Menschen ihr einst entrissen hatten.
»Das also ist dein Geschenk an die Goldéi, Sternengänger«, murmelte der Fürst. »Du gibst Gharax der Sphäre preis.«
Ein Geräusch schreckte ihn auf. Vom Pfad drangen Stimmen empor. Eine Gruppe von Männern schritt durch das Tor von Talanur. Sie gingen gebeugt, auf den Rücken trugen sie ihre wenigen Habseligkeiten: Kleiderbündel, Bogen, einfache Säbel. Baniter zählte dreißig Mann. Sie versammelten sich vor dem Hang unter der Burg. Ihr Anführer, ein Mann mit kurzgeschorenem Haar, schritt durch die Reihen und reichte einen Trinkschlauch umher. Er redete auf seine Leute ein, versuchte sie aufzumuntern.
Baniter war froh, endlich wieder Menschen zu sehen; keine Geister und Scheinwesen wie in den Winkeln des Verlieses. Eilig kletterte er den Hang hinab. Geröll löste sich unter seinen Füßen und rollte vor ihm in die Tiefe.
Die Männer wandten sich um. Ihr Anführer starrte verblüfft auf Baniter. Er war klein und kräftig, seine blauen Augen wirkten müde. Er trug – wie seine Leute – kathygische Kleider aus grauem Leinen.
»Ich wusste nicht, dass in den Trümmern der Burg jemand lebt«, begrüßte er den Fürsten. »Woher kommt Ihr?«
Baniter hatte den Pfad erreicht. Er klopfte den Sand von seinen Ärmeln. »Ich kehre von einer langen Reise zurück … aber das zu erklären, würde zu weit führen.« Er betrachtete die Gruppe näher. Es waren Kathyger, wie er an den hellen Gesichtern, den geschnitzten Griffen ihrer Säbel und den gefärbten Lederschuhen erkennen konnte.
»Ich hatte jemand anderen erwartet.« Der Anführer schien enttäuscht. »Ein Kind … vielleicht wurdet Ihr von ihm geschickt oder habt es gesehen? In diesem Fall heiße ich Euch willkommen. Ich bin Cercinor aus dem Rochenland, und dies sind meine Leute.«
Baniter runzelte die Stirn. »Cercinor?« Der Name kam ihm vertraut vor. »Der Cercinor? Der Aufständische aus dem Rochenland? König Eshandroms größte Plage?«
Sein Gegenüber lächelte. »So sagt man wohl. Aber der Hund Eshandrom ist nicht mehr. Er ist geflohen, als wir ihn in seiner Stadt stellen wollten.« Cercinor schützte das Gesicht vor dem Pradan-Anuf, der Sand vom Pfad aufwirbelte. »Und wer seid Ihr?«
»Baniter Geneder, der Fürst von …« Baniter hielt inne. »Baniter Geneder, aus Vara«, verbesserte er sich. Er spürte die Wunde auf seiner Stirn brennen.
»Aus Vara? Dann seid Ihr weit entfernt von Eurer Heimat.«
»So wir Ihr. Was macht ein Rochenländer auf dem Yanur-Se?«
Cercinor setzte das Bündel von seinem Rücken ab. »Wir fliehen. Und wir warten; auf das Kind, das uns fortführt.« Seine Worte klangen verbittert. »Wir haben lange gekämpft, Fremder … gegen Eshandrom und seine Schergen, gegen Baron Eldroms Willkür und den Hochmut der Zauberer, und am Ende auch gegen die Goldéi, als sie den Arkwald besetzten. Ihr könnt nicht wissen, was wir in den letzten Kalendern erleiden mussten.«
Baniter blickte zur Stadt Praa. »Das
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