Splitterwelten 01 - Zeichen
getrunken.«
»Nicht so viel, als dass ich mich nicht noch genau erinnern könnte«, versicherte sie lachend. »Ich hätte niemals angenommen, dass Hakkit ein solch begnadeter Sänger ist.«
»Ich weiß«, erwiderte Erik. »Aber verbergen wir nicht alle bisweilen Eigenschaften, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind?«
Etwas an der Art, wie er es sagte, erweckte Kalliopes Unbehagen. Die Heiterkeit war aus seiner Stimme gewichen.
»Was habt Ihr?«, wollte sie wissen.
»Nichts. Es ist nur so, dass ich das, was ich Euch zeigen will, noch niemandem zuvor gezeigt habe.«
Sie waren stehen geblieben, und sie konnte hören, wie er sich an einem Schloss zu schaffen machte. Eine Kette klirrte, dann schwang eine Tür mit lautem Knarren auf. Eisig kalte Luft schlug Kalliope entgegen.
»Tretet vor«, verlangte er.
Kalliope hörte den Wind pfeifen und spürte, wie er ihr das offene Haar zerwühlte – so als stünde sie am Rand eines gähnenden Abgrunds. Unweigerlich blieb sie stehen.
»Was ist?«, fragte Erik. »Vertraut Ihr mir nicht?«
»Ich möchte nur wissen, wo wir sind.«
»Auf dem höchsten Turm von Thulheim«, gab er zur Antwort, und sie glaubte, in seiner Stimme eine Spur von Bedauern zu hören. »Er ist verlassen, seit ihn vor einigen Jahren der Zorn der Götter ereilte. Viele wagen sich nicht mehr hierher und sagen, dieser Ort sei von den Göttern verflucht. Deshalb ist er so geeignet für meine Zwecke. Jedenfalls während der Zeit des Eises.«
Kalliope schürzte die Lippen. Trotz ihrer kriegerischen Kultur und der einfachen Lebensweise war den Bewohnern von Jordråk ein gewisser Hang zu bildhaften Ausdrücken zu eigen – wenn ein Turm vom »Zorn der Götter ereilt« wurde, so bedeutete dies vermutlich nichts anderes, als dass ein Blitz eingeschlagen und ihn in Flammen hatte aufgehen lassen. Tatsächlich vermeinte Kalliope auch, in der nach Eis und Schnee riechenden Luft Spuren von Brandgeruch wahrzunehmen. Erik schien also die Wahrheit zu sagen, dennoch hatte sie noch immer das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg.
Etwas, das ihn bedrückte.
Als sie über die Schwelle trat, kündigte er an, ihr die Augenbinde abzunehmen.
»Schließt Eure Augen«, schärfte er ihr ein, »und öffnet sie erst, wenn ich es Euch sage.«
Kalliope tat ihm auch diesen Gefallen, es war nicht mehr von Belang. Sie hatte in den letzten Tagen so viele Dinge getan, die noch vor einigen Wochen undenkbar für sie gewesen wären und die weder im Einklang mit den Ordensregeln noch mit dem gesunden Menschenverstand waren. Doch sie nahm das Leben viel intensiver wahr, seit sie beschlossen hatte, nicht mehr nur auf ihren Verstand, sondern auch auf ihr Herz zu hören – und ihr Herz sagte ihr, dass sie Erik vertrauen konnte.
»Nun öffnet die Augen«, forderte er sie auf.
Kalliope tat, was er verlangt hatte – und wurde von Erstaunen, ja, von Ehrfurcht erfüllt. Mit einem solchen Anblick hatte sie nicht gerechnet.
Sie befand sich in einem Wald.
Einem Wald, der rings von der kreisrunden, brüchigen Turmmauer begrenzt wurde und über dem sich dichte Wolken ballten. Doch es waren keine Bäume, die sich in den grauen Himmel Jordråks reckten – es waren Skulpturen, lebensgroße Figuren! Hier sah Kalliope einen Krieger, der mit einer Schlange rang; dort einen Zwerg an einem Amboss; hier eine Frau, die an einem Spinnrad saß, dort einen Wolf im Sprung. Sie alle waren von kunstfertiger Hand aus Eisblöcken geschnitten worden, sodass das Tageslicht teils durch sie hindurchschien und sich teils an ihrer glitzernden Oberfläche brach. In ihrem ganzen Leben hatte Kalliope nichts Vergleichbares gesehen.
»Erik«, stieß sie hervor, »das ist wundervoll!«
»Und vergänglich«, erwiderte er. »Denn wenn die Zeit des Eises zu Ende geht und die Winde sich erwärmen, wird alles Eis zu Wasser werden.«
»Unendlich schade«, bedauerte sie.
»Ist das Euer Ernst? Gefällt es Euch wirklich?«
Sie nickte, während sie die Darstellung eines hünenhaften Kriegers betrachtete, der ein großes Horn in den Händen hielt.
»Dies ist das Gjallahorn«, erklärte Erik ihr dazu. »In der Prophezeiung von Ragnarök heißt es, dass es dereinst geblasen wird, wenn sich die Mächte des Lichts und der Finsternis erneut zum Kampf gegenüberstehen.«
»Und dies?«, fragte Kalliope, auf die Frau mit dem Spinnrad deutend.
»Frigg, die Göttin des Sanktuarions. Mit ihrem Spinnrad, das mit Edelsteinen besetzt ist, spinnt sie die Wolken und die Farben des
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