Splitterwelten 01 - Zeichen
erzählst du mir das alles? Was hat dieser Schild mit der Gilde zu tun? Weshalb glaubst du, dass sie ihn haben will?«
»Weil uns jener Fremde gewarnt hat, ehe er uns verließ. Er sagte, dieser Schild sei Jordråks größter Schatz. Und dass einst mächtige Feinde kommen und danach trachten würden.«
»Und das habt Ihr ihm geglaubt?«
Erik lächelte müde. »Du musst uns für sehr naiv halten, nicht wahr?«, fragte er. »Erinnerst du dich an das, was ich dir über Ragnarök erzählt habe? Über den Krieg zwischen Göttern und Eisriesen, aus dem das Sanktuarion hervorgegangen ist.«
»Natürlich.« Sie nickte.
»Die Geschichte war noch nicht zu Ende. Im Lied von Ragnarök heißt es weiter, dass sich die Mächte der Finsternis dereinst erneut erheben werden und dass es dann an den Sterblichen sein wird, die Welt vor dem Untergang zu bewahren.«
Ein Schauer durchfuhr Kalliope, unwillkürlich fühlte sie sich an die Vision der Erhabenen Schwester erinnert. »Was weißt du über den Weltuntergang?«
»Im Lied von Ragnarök heißt es, dass eines Tages des Hornes Klang erneut erklingen und die Krieger zur letzten Schlacht rufen wird.«
»Das Gjallahorn«, flüsterte Kalliope in Erinnerung an die Eisskulptur, die Erik ihr gezeigt hatte.
»Doch dem Klang des Gjallahorns werden Zeichen vorausgehen, die im Gesang von Ragnarök beschrieben sind.«
»Was für Zeichen?«
Erik schluckte sichtbar. »Es heißt, dass sich die Wölfe erheben werden«, erwiderte er dann. »Es heißt, dass eine Frau von hoher Herkunft ein grausames Ende finden wird. Und es heißt außerdem«, fügte er leise hinzu, »dass Jordråk angegriffen und erobert wird. Wenn all dies geschieht, ist der letzte Kampf nicht mehr fern.«
»Bei allen Welten«, hauchte Kalliope. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte sie vermutlich keinen Deut auf alte Mythen und Weissagungen gegeben, zumal, wenn sie von einer wilden, barbarischen Welt stammten. Aber konnte sie das noch immer? Waren die Mythen und Prophezeiungen der Völker des Sanktuarions womöglich alle miteinander verknüpft, als Ausdruck eines übergeordneten, größeren Schöpfungsplans?
»Was wird laut eurer Prophezeiung geschehen?«
»Im Schlussgesang von Ragnarök heißt es, dass ein Feind von außerhalb kommen und jene Mächte entfesseln wird, die die Götter einst in ihr dunkles Reich verbannten. Gemeinsam werden sie die Welten des Ginnungagap in ewige Nacht stürzen.«
»Das Nox«, flüsterte Kalliope das Wort, das die Gildeschwestern für die große Dunkelheit gebrauchten. »Und ihr denkt, dass dieser Feind von außerhalb … die Gilde ist?«
»Was würdest du an unserer Stelle denken?«
»Aber die Gildeschwestern fürchten das Nox ebenso sehr wie ihr! Sie verabscheuen die Finsternis und das Chaos und würden alles daransetzen, das Sanktuarion davor zu bewahren – selbst und vor allem jene, die sich der Inquisition verschrieben haben!«
»Vielleicht«, räumte Erik ein, »aber bisweilen sind es die besten Absichten, die die größten Katastrophen heraufbeschwören.«
»Du meinst, gerade dadurch, dass sie das Sanktuarion zu schützen versuchen, könnten die Schwestern der Inquisition den Untergang heraufbeschwören?« Der Gedanke ließ Kalliope schwindeln. Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung war eines der strittigsten Themen in der Metasophie. War es möglich, dass sich eine Voraussage erst dadurch erfüllte, dass man die prophezeiten Ereignisse zu verhindern suchte?
»Wenn es so ist«, führte Kalliope ihren Gedanken flüsternd zu Ende, »welche Hoffnung bleibt uns dann?«
Erik lächelte abermals. »Seltsam, dass du fragst.«
»Was meinst du?«
»Am Ende des Liedes von Ragnarök findet ein Schild Erwähnung – ein Schild, geschmiedet von Meisterhand, der uns in jenem letzten Kampf beschirmen und uns vor Tod und dunkler Nacht bewahren wird.«
Kalliope deutete zur Eissäule. »Du meinst – diesen Schild?«
Er lächelte nur.
»Aber wie kann das sein?« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Sagtest du nicht, dass das Lied von Ragnarök uralt wäre? Wenn der Schmied, der diesen Schild gefertigt hat, Jordråk erst vor zwanzig Zyklen verlassen hat, wie kann der Schild dann in dem Lied Erwähnung finden?«
»Sag du es mir«, erwiderte Erik leise.
»Wieso ich?«
»Im Schlussgesang heißt es, dass der Schild von einer Fremden zarter Hand geführt wird«, eröffnete der Prinz von Jordråk. »Von dir.«
Kalliope sog scharf nach Luft. »Wie bitte?«
»Alles, wovon in der
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