Sprache, Kommunikation und soziale Entwicklung
»l« und »r« bei japanischen Kleinkindern im Alter von 10 bis 12 Monaten (Werker & Tees 1984).
Um in der gesprochenen Sprache Morpheme, Wörter und Wortfolgen als sinnvolle, bedeutungstragende Einheiten erkennbar zu machen, nutzen die Sprachen der Welt jeweils eigene Segmentierungs- und Betonungsregeln, die den Sprachfluss in Wörter, Phrasen und Sätze gliedern. Das ist weitaus komplizierter als in der Schriftsprache, wo einfache Leerzeichen oder Interpunktionen genügen. Neben Markierungen durch Betonung und Intonation geht es um Regeln im Sprechrhythmus und Pausieren und um phonotaktische Regeln, die sprachtypische Lautfolgen bei der Wortbildung bestimmen. Säuglinge machen sich bis zum Alter von 12 Monaten mit den prosodischen, phonotaktischen und semantischen Regelhaftigkeiten der Muttersprache vertraut (Jusczyk 1999). So werden sie z. B. empfänglich für die prosodische Segmentierung von sprachlich bedeutsamen Lautsequenzen in Wörtern, Phrasen und Sätzen (Christophe et al. 2001; Kemler-Nelson et al. 1989; Thiessen et al. 2005). Sie lernen, potentielle Wörter von sprachunüblichen Lautfolgen (Jusczyk 1999) oder Betonungsmustern (Höhle et al. 2009) zu unterscheiden und ihre Aufmerksamkeit bevorzugt auf prosodisch hervorgehobene Wörter zu richten (Fernald & Mazzie 1991). Die auditive Aneignung des muttersprachlichen Lautinventars und Regelwerks erleichtert auch im Sprachfluss das Identifizieren von potentiellen Wörtern, besonders dann, wenn diese regelmäßig mit bestimmten Bedeutungen im Erfahrungskontext verknüpft werden (Yeung & Werker 2009).
Die auditiv-perzeptive Aneignung von Lautinventar und phonologischem Regelwerk der Muttersprache im 1. Lebensjahr stützt sich auf implizite Lernprozesse, die sich an den Verteilungsmustern der muttersprachlichen Phoneme orientieren (Meltzoff et al. 2009). Wie die Autoren annehmen, bildet sich im Lauf des ersten Lebensjahres ein auditiv-perzeptives Netzwerk für das Erkennen phonetischer und prosodischer Merkmale der vertrauten Sprache(n) des sozialen Umfeldes (Kuhl et al. 2008). Erfolge des phonetischen Lernens lassen sich – z. B. mit Hilfe ereigniskorrelierter Potentiale – bereits im Alter von 7 Monaten nachweisen (Kuhl 2010). Die Zunahme muttersprachlicher Sprachwahrnehmung und gleichzeitige Unterdrückung fremdsprachlicher Wahrnehmungsfähigkeiten wird damit erklärt, dass die neuronalen Netzwerke der auditiven Sprachverarbeitung auf das Lautinventar der Muttersprache quasi eingeschworen werden (»native language neural commitment«, Kuhl et al. 2009), während die auditive Aufmerksamkeit für fremdsprachliche Laute gehemmt wird. Die auditiv-sensorische Repräsentation des Lautinventars erleichtertim Sprachfluss das Identifizieren und Zuordnen von Wörtern (Kuhl et al. 2008).
Intuitive elterliche Unterstützung der Lautwahrnehmung
Die bemerkenswerten auditiven Wahrnehmungsfähigkeiten des Säuglings sind nicht nur von seinen Lernfähigkeiten abhängig, sondern auch von spezifischen Qualitäten des sprachlichen Inputs. Sie sind experimentell nur dann nachweisbar, wenn die Lautmodelle extrem vereinfacht und verdeutlicht sind (z. B. Kontraste von Einzelsilben) oder die Sprachmodelle der »Ammensprache« gleichen (z. B. Karzon 1985; Thiessen et al. 2005) und auch im Experiment von einem sozialen Interaktionspartner angeboten werden (Meltzoff et al. 2009).
Als »Ammensprache« (in der internationalen Literatur »motherese« oder »infant-directed speech«, »ID-speech«) werden die unwillkürlichen Anpassungen der Sprechweise bezeichnet, die Eltern und andere Bezugspersonen im natürlichen Kontext der frühen Kommunikation intuitiv ausüben, wenn sie sich mit einem Säugling im vorsprachlichen Alter verständigen wollen (Fernald & Simon 1984; M. Papoušek et al. 1987). Im Säuglingsalter vereinfachen und übersteigern die Eltern vor allem die prosodischen Merkmale, melodische Konturen, Betonung und Rhythmus. Sie sprechen verlangsamt, mit zahlreichen Wiederholungen, Variationen und verlängerten Pausen. Und sie nutzen die melodischen Konturen, um dem Baby ihre kommunikativen Absichten und einfache affektive Botschaften zu vermitteln: Anregen, Wecken von Aufmerksamkeit, Bestärken, Beruhigen und Trösten (Fernald 1989). Während sie beispielsweise zum Trösten ihres Babys in tiefer Stimmlage mit fallender Melodik und gleichmäßig langsamem Rhythmus sprechen, nutzen sie eine höhere Stimmlage, ansteigende Melodik und einen raschen, stakkatoartigen Rhythmus,
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