Sprechende Maenner
Beziehungen.
re:
Also Gewöhnung.
aw:
Ich bin immer wieder erstaunt, woran ich mich alles gewöhnt habe. An die Haare im Ausguss, an das gemeinsame Wäschezusammenlegen vor dem Fernseher, an die Urlaube im Haus meiner Schwiegereltern, an den vorwurfsvollen Blick von Catherine, an ihre Kommentare, wenn ich Auto fahre, Traktor fahre, Fahrrad fahre, an die festen Essenszeiten, an die Brotbüchsen, an Catherines Freundinnen, an den Familienlärm und daran, dass ich fast nie allein bin. Dass immer jemand da ist. Immer jemand etwas von mir will.
Mein Leben besteht zu 80 Prozent aus Gewöhnung, schätze ich.
Tag 35
An dem bemerkt wird, dass Gewöhnung gut sein kann und dass manche Frauen beim Küssen nach frisch geputztem Fenster schmecken
Lieber Maxim, Gewöhnung ist wahrscheinlich das, wovor ich mich am meisten fürchte. Vermutlich noch mehr als vor dem Unglück. Gewöhnung lässt alles alt werden, gebraucht. An der Gewöhnung prallen alle Fragen ab, alle Zweifel. Ich glaube, wer sich an alles gewöhnt, wer bereit ist, sich an alles zu gewöhnen, der ist ein bisschen tot. Macht es dir nicht Angst, dass jetzt alles so weiterlaufen könnte? Dass dein Leben mit 41 sich kaum unterscheiden wird von deinem Leben mit 51? Gibt es überhaupt so etwas wie glückliche Gewöhnung?
aw:
Jochen, ich glaube, der Gewöhnung wird groÃes Unrecht angetan, vor allem von Romantikern wie dir. Die Gewöhnung ist ein Alltagsvor gang, sie entfaltet sich dort, wo es immer gleiche Abläufe und feste Rahmenbedingungen gibt. Also bevorzugt in Familien. Wer Gewöhnung ablehnt, wird nie eine längere Beziehung führen. Die Gewöhnung ist ein Narkosemittel, das, im rechten MaÃe dosiert, Gutes bewirken kann. Weil es die Kompromisse und die Anstrengungen vergessen macht, die notwendig sind, um mit einem anderen Menschen zusam menzuleben. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Gewöhnung.
re:
Und in Ãberdosierung?
aw:
Wenn ich zwei Wochen lang mit der kompletten Familie von Catherine in diesem Haus in den Bergen sitze und es regnet drauÃen und keinen von denen stört es, weil sie alle so froh sind, zusammen zu sein. Und ich sitze da und denke: Okay, und das ist jetzt mein Leben? Ich sitze meinen Urlaub ab und warte, dass es vorbeigeht. Wenn ich das nicht mehr spüren würde, wenn ich nach Hause fahre und sage: »Wieder ein ganz wunderbarer Urlaub, so wie jedes Jahr« â dann wäre das eindeutig überdosiert.
Das wäre keine Gewöhnung mehr. Sondern Selbstverleugnung.
re:
Wenn es überdosierte Bereiche gibt, Maxim, dann bist du leider der Letzte, der sie bemerken wird. Weil du ja derjenige bist, der narkotisiert ist.
aw:
Stimmt.
re:
Deshalb brauchst du mich. Deinen Gewöhnungsdetektor. Ich bin für dich da.
aw:
Du bist meine Anästhesieschwester? Das ist schön. Aber auch bei dir gibt es sehr viel Gewöhnung, mein Lieber.
re:
Wo?
aw:
Du hast dich daran gewöhnt, dich an nichts zu gewöhnen. Immer schnell wegzulaufen vor jeder Gewöhnung. Das ist, im Endeffekt, sehr gewöhnlich.
re:
Die Gewöhnung der Nichtgewöhnung. Die Negation der Negation.
aw:
Ja, vielleicht. Aber ich fühle mich schon ganz narkotisiert. Ganz taub und schwer. Wollen wir wirklich über Gewöhnung reden? Lass uns über Sex reden, Jochen. Weck mich auf, Anästhesieschwester!
Hattest du eigentlich schon Sex mit Anna?
re:
Was? Wie?
aw:
Hattest du schon Sex mit Anna?
re:
Sex in Ãberdosierung führt zum Tod jeder Beziehung.
aw:
Ich frage ein drittes Mal: Hattest du schon Sex mit Anna?
re:
Wie kommst du darauf?
aw:
Näschen. AuÃerdem triffst du dich mit ihr seit Wochen. Und du bist schweigsam geworden. Noch schweigsamer.
re:
Kein Sex.
aw:
Was macht ihr denn die ganze Zeit? Der Abend im Bistro war doch sicher nicht euer letztes Treffen. Wo ist der Fortschritt?
re:
Wir aÃen Pilze. Willst du was Schleimiges hören?
aw:
Ich lege die Beine auf den Schreibtisch und höre dir aufmerksam zu â¦
re:
Wir fuhren raus aus der Stadt, der Tag war warm, sonnig. Wir fuhren in meinem Auto, und Anna wurde schlecht. Sie schloss die Augen und legte ihren Kopf auf die Kante der heruntergelassenen Autoscheibe. Wie ein schlafender Hund. So fuhren wir. Das Auto, ich und Anna, der schlafende Hund.
Wir legten uns auf eine Wiese am Rande eines Waldes, erzählten, dösten, liefen ein paar Wege entlang, küssten
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