Sprengkraft
die deutschen Kunden wegbleiben könnten. Zum Teufel mit der falschen Rücksichtnahme! Sich die Barthaare zu entfernen war haram – eine Sünde laut islamischer Lehre. Der Prophet war das Vorbild. Nicht die Schweinefresser, die keine Ahnung vom Glauben hatten.
Rafi erinnerte sich an das Blatt Papier, das er bei Said eingesteckt hatte. Er trocknete seine Hände, setzte sich auf die Toilette, zog den Zettel aus der Jackentasche und strich ihn auf den Knien glatt.
Bilder, arabische Schrift und etwas Text auf Deutsch – eine Collage aus populären Markennamen und comicartig gezeichneten Kriegsszenen, die den Preis von Alltagsgegenständen zu dem Marktwert der Munition in Beziehung setzten, die im Irak und anderswo gegen Muslime verschossen wurde.
Coca-Cola: 4 Schuss
Always Ultra: 12 Schuss
Hamburger: 40 Schuss
Rafi fühlte sich schuldig. Wie oft hatte er früher bei McDonald’s gegessen – völlig unbedacht!
Nike-Turnschuhe: 800 Schuss
Rafi sah an sich herab. War Adidas erlaubt? In Afghanistan kämpften auch deutsche Truppen.
Das sind Waren von Kreuzzüglern und Juden.
Kauf dein Glück nicht mit dem Blut deiner Brüder!
Es klopfte an der Tür. Sein Vater wollte ins Bad. Rafi spürte Hass auf diesen Mann.
Er regte sich nicht.
Nach einer Weile entfernten sich die Schritte – sein Vater hatte aufgegeben.
Rafi ließ kaltes Wasser über seine verkrüppelte Hand laufen, damit sie nicht so juckte. Dann holte er sein Handy hervor und wählte Saids Nummer. Der Glaubensbruder meldete sich.
»Wir sollten es einfach tun«, sagte Rafi.
»Was denn?«
»Den Schweinefressern Saures geben. In die Luft sprengen, oder so.«
»Nicht am Telefon!«
Rafi wollte sich entschuldigen, doch Said hatte aufgelegt.
Freitag, 6. März, Düsseldorfer Morgenpost, Seite eins:
Bin Laden droht Europa Terroristenführer Osama bin Laden hat den europäischen Staaten wegen der wiederholten Veröffentlichung dänischer Mohammed-Karikaturen mit Anschlägen gedroht. Die satirischen Zeichnungen seien »Teil eines Kreuzzuges« und »für Muslime noch schlimmer als das Töten wehrloser Zivilisten im Krieg«, heißt es in einer fünfminütigen Tonaufnahme, die gestern in einem Internetforum von Islamisten veröffentlicht und von Experten als authentisch bezeichnet wurde.
Für Deutschland gibt es nach Einschätzung des Berliner Innenministeriums jedoch kein erhöhtes Terrorrisiko. »Für uns ist von besonderem Interesse, dass Deutschland nicht genannt wird«, sagte eine Sprecherin.
3.
Die Sonne strahlte durch ein Wolkenloch auf Köln-Ehrenfeld herunter, es war windstill und die gefühlte Temperatur kletterte höher, als es der Wetterbericht hatte erwarten lassen. Moritz Lemke war spät dran. Er schwitzte in seinem Trenchcoat, als er zum Auto eilte und sich fragte, wann er das letzte Mal einen Stellplatz gefunden hatte, der nicht in der Distanz eines Halbmarathons von seiner Wohnung entfernt lag.
Letzte Nacht hatte er den Mondeo auf einem Gewerbehof an der Venloer Straße geparkt, in der Ladezone eines Getränkemarkts – hoffentlich war das Auto nicht abgeschleppt worden.
An der Zufahrt trat ihm ein Kerl in den Weg. Graue Hose und beigefarbener Anorak, ein Packen Papier in der Umhängetasche. Er klapperte mit einer Spendenbüchse, Flugblatt in der anderen Hand, und murmelte: »Für die Freiheit unserer westlichen Werte!«
Moritz schnappte sich den Flyer, ignorierte die Bitte nach einer Spende und lief auf den Hof. Sein Wagen stand an Ort und Stelle.
Erleichtert entriegelte Moritz die Tür. Bevor er den Motor anließ, warf er einen Blick auf das eng bedruckte Blatt, das ihm der Aktivist in die Hand gedrückt hatte.
Wo auch immer jemand protestierte, musste Moritz sich kundig machen. Als Schüler in den Siebzigern im wilden Eifer des Möchtegern-Revoluzzers – gegen Antiterrorgesetze, Atomkraft und NATO-Raketen. Nach Studium und Volontariat aus professioneller Neugier. Heute hatte sich seine Begeisterungsfähigkeit merklich abgeschliffen, aber was sich gegen die etablierte Politik und ihre eitlen Vertreter regte, besaß meistens sein wohlwollendes Interesse.
Rot gedruckte Überschrift: Religionsfreiheit ist kein Argument!
Moritz hätte es sich denken können: Es ging gegen die Großmoschee mit ihren Fünfundfünfzig-Meter-Minaretten, die ein türkischer Verein auf dem Gewerbehof bauen wollte. Bislang diente hier eine ehemalige Lagerhalle als Gebetsraum, eingepfercht zwischen Getränkemarkt und
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