Spring in den Himmel
aus der Hand, es rollte in den Fluss, wurde vom Wasser weggetragen. Eigentlich wäre nun ein dummer Spruch Yoyos fällig gewesen, dachte Jamina, aber die war viel zu sehr in ihrer traurigen Erinnerung gefangen, starrte nur auf einen Stein und ließihr eigenes Eis einfach so schmelzen, bis es ihr über die Hand lief.
»Da war ich fünf. Aber ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern. Ist auch klar, wegen Trauma und so. Wenn dir was so Schlimmes passiert, dann verdrängst du das sofort. Das steckst du weg, irgendwo in die hinterste Ecke deines Gehirns oder deiner Seele oder irgendwohin, wo du es schnell vergessen kannst, vielleicht sogar für immer. Hab ich mal gelesen.«
»Aber du musst doch wissen …«
»Gar nichts weiß ich«, unterbrach Yoyo sie. »Ich kann mich noch an meine Mama erinnern, an ihre schönen braunen Haare, die waren ganz lang und glatt. An ihre hellbraunen Augen, wie Bernstein. An ihre warmen Hände. Ich weiß sogar noch, wie sie geduftet hat. Dann ist da ein großes schwarzes Loch – und nachher war sie nicht mehr da.«
Jamina schwieg betroffen. Yoyo wusch sich die vom Eis verklebten Hände im Fluss.
»Ich weiß noch, dass ich auf einmal vor zwei Leuten stand, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Und die ich auf Anhieb nicht ausstehen konnte. Die eine war die Schwester meines Vaters und der andere ihr blöder Mann. Bei denen sollte ich in Zukunft leben. Du armes Kind, hat die dumme Kuh gesagt und mich hochgehoben. Da hab ich sie ins Ohr gebissen. Und sie hat mir eine gescheuert. Damit waren wir Feinde fürs Leben.«
Yoyo sah Jamina direkt an. Ehrlich, offen, klar.
»Nur ich hab überlebt. Aber manchmal denk ich mir,ich wäre viel lieber mit meiner Mama gestorben. In ihrem Arm. Wahrscheinlich habe ich sowieso nur überlebt, weil sie mich festgehalten hat.«
»Ich denke, du kannst dich gar nicht mehr erinnern.«
»Manchmal kommen so Fetzen. Aber dann weiß ich nicht, ob die wahr sind und so aus der Versenkung auftauchen oder ob ich mir das einbilde. Zum Beispiel, dass sie ein italienisches Lied gesungen hat.«
Sie fing an, eine Melodie zu summen, dann allmählich kam der Text dazu. Eine schöne, klare Stimme, leise und doch eindringlich:
Ma come bali bene, bella bimba, bella bimba, bella bimba …
Yoyo brach ab. Starrte vor sich hin.
»Angeblich hat meine Mama nur Italienisch mit mir gesprochen und als kleines Kind konnte ich's perfekt. Aber nach dem Unfall, da war alles weg. Alles. Ich muss es jetzt wieder mühsam lernen.«
Was sollte sie dazu nur sagen? Jamina wartete ab und beobachtete Yoyo, die ein Foto herauszog und es ihr zeigte. »Questa è mia mamma.«
Yoyo hatte ihre Mutter gut beschrieben: die Haare, die Augen, die warmherzige Ausstrahlung. Jamina sah vom Foto zu Yoyo.
»Findest du nicht auch, dass sie mir ähnlich sieht?«
Jamina senkte den Blick, sie wollte Yoyo nicht kränken, hatte sie doch überhaupt keine Ähnlichkeit ausmachen können. Sie wich aus.
»Was ist mit deinem Vater?«
»Was soll schon mit ihm sein?«
»Warum hat er dich nicht aufgenommen?«
»Der Alte? Vergiss es. Da war gleich eine neue Tussi und für mich kein Platz mehr. Die Typen sind doch alle gleich – oder ist dein Vater anders?«
Jamina dachte nach. Ihr Leben war längst nicht so sensationell und spektakulär. Yoyo steckte das Foto wieder ein und stupste sie in die Seite.
»Hey, erzähl schon. Du bist doch auch so eine Halbe wie ich. Bei dir sieht man's ja sogar noch.«
In Jamina stieg Wut auf. Das hatte sie schon so oft gehört. Als dürfte man in diesem Land keine schwarzen Haare und dunklen Augen haben.
»War nett gemeint. Echt. Du siehst doch aus wie eine orientalische Schönheit.«
»Wie eine Ausländerin.«
»Hey, komm. Wer will schon deutsch aussehen?«
Yoyo lachte wieder. Jamina zögerte noch, doch Yoyo war so offen und ehrlich gewesen, warum sollte sie es ihr nicht erzählen?
»Mein Vater ist wegen meiner Mutter nach Deutschland gekommen. Aus Liebe, das sagt er selbst.«
»Wo ist er denn her?«
»Eigentlich aus Algerien. Aber damals hat er schon in Paris gelebt. Er wollte dort fertig studieren und dann …«
»Wow, cool. Dein Dad ist Araber?«
Jamina nickte nur.
»Auch Moslem?«
Wieder nickte sie.
»Aber nix mit Kopftuch …«
»Nein, siehst du doch.«
Yoyo wurde auf einmal sehr ernst.
»Deine Mom muss eine sehr glückliche Frau sein.«
»Warum das denn?«
»Da kommt ein Mann wegen ihr in diese verpisste Gegend, statt in Paris zu leben oder in
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