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Spür die Angst

Spür die Angst

Titel: Spür die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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er in Richtung Fruängen musste. Also fünf Minuten warten.
    Er stand am Ende des Bahnsteigs. Mochte diesen Bereich. Die letzten Meter, die der Zug oftmals nicht erreichte, wenn er anhielt. Einöde, ein verwaistes Stück Blinddarm, abgelegen, ein vergessener Teil im Connex-Dschungel. Betrunkene Männer, die auf die Gleise pissten, Gangs, die Jugendlichen die Handys klauten, Paare, die sich liebten, Ratten und Tauben, die den Boden vollschissen. Aber vor allem Graffitisprayer, die die Zementwüste mit ihren Spraydosen attackierten. Die Securityleute von Falck kümmerte das kaum, und Familien mit Kindern hielten sich sowieso in der Mitte des Bahnsteigs auf, um sich nicht abhetzen zu müssen, wenn ein Kurzzug einfuhr.
    Die Bahn nach Fruängen kam. Jorge stieg ein.
    Die Stimme des Fahrers rief über die Lautsprecher: »Dieser Zug fährt nach Frueangen.« Jorge erkannte die Stimme wieder, weicher afrikanischer Dialekt, er war schon öfter mit diesem Fahrer gefahren. Musste laut lachen. Dachte: Hätte auch Daddy Boastin sein können, der den Zug fuhr.
     
    Hägersten oder genauer gesagt Västertorp näherte sich. Er konnte den Störtloppsväg in der Nähe der Badeanstalt sehen. Gleich würde er Paola treffen.
    Das Arbeiterviertel war, verglichen mit Jorges Betonghetto, das reinste Idyll. Das alte Badehaus aus gelbem Backstein mit den Marmorskulpturen davor lag wie ein romantischer Treffpunkt mittendrin.
    Er ging auf Paolas Haustür zu.
    Gab den Türcode ein, den sie ihm per SMS geschickt hatte.
    Der Fahrstuhl funktionierte nicht. Er nahm die Treppe nach oben, dachte an JW . Der Typ war in Ordnung. Ein Freund. Jorge fühlte sich irgendwie mit ihm verbunden. Hatte sich ihm vor zwei Tagen anvertraut und ihm versichert, wie sehr er in seiner Schuld stand. Hatte zu dem Oberklassentyp gesagt: »Ich bin noch nie von jemandem gerettet worden. Ich wäre gestorben.« Er hatte JW angesehen, dass es ihm naheging: »Wenn du nicht gekommen wärst.«
    Er war in der obersten Etage angekommen.
    Wartete ein paar Atemzüge.
    Klingelte an der Tür.
    Und dann stand sie da. Über ein Jahr her, dass sie sich gesehen hatten. Tränen in den Augen. Noch hübscher, als er sie in Erinnerung hatte. Fülliger.
    Sie umarmten sich/hielten sich fest/weinten.
    Sie roch gut.
    Sie setzten sich auf die Klappstühle in ihrer Küche. Zwei Poster an den Wänden: Che Guevara auf dem einen und ein abstraktes Gemälde von Servando Cabrera Moreno auf dem anderen.
    Paola setzte Teewasser auf.
    Jorge fand, dass ihr Haar glänzte. Pechschwarz, dunkler als seins, obwohl er seins gefärbt hatte. Er betrachtete ihr Gesicht mit anderen Augen. Sie hatte Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Aber irgendwas war anders als sonst. Obwohl die Tränen längst getrocknet waren, wirkte sie traurig.
    »Wie geht’s Mama?« Sein chilenischer Dialekt stärker als gewöhnlich, der gewöhnliche S-Laut war weicher als im Spanischen.
    »Wie immer. Schmerzen in der Schulter. Fragt sich, was du immer anstellen musst und vor allem warum.«
    Sie goss Wasser in zwei Becher. Tauchte einen Teebeutel in den einen.
    »Du kannst ihr ausrichten, dass es mir prächtig geht und ich das mache, was ich tun muss.«
    »Wieso muss? Du bist intelligent, du hättest deine Zeit absitzen und danach studieren können.«
    Sie nahm den Teebeutel heraus. Hängte ihn in den anderen Becher. Es reichte gerade, um das Wasser zu färben.
    Jorge fand, dass ihre Bewegungen so bedächtig wirkten.
    »Hör auf, Paola. Lass uns nicht streiten. Ich tu, was ich für richtig halte. Nicht alle können leben wie du. Ich liebe euch, das weißt du. Sag das auch Mama.«
    »Ich akzeptiere ja deine Entscheidung. Aber damit tust du Mama weh, das musst du verstehen. Sie hat geglaubt, dass du dich nach der Schule zusammenreißen würdest. Es spielt keine Rolle, dass sie sich in deiner Welt nicht auskennt. Aber sie ist verdammt traurig. Kannst du sie nicht besuchen?«
    »Geht im Moment nicht. Muss mein Leben in den Griff kriegen. Zu unsicher. Nichts, aber auch gar nichts ist sicher.«
    Sie beendeten das Thema. Paola saß eine Weile schweigend da.
    Dann erzählte sie von ihrem Studium. Ihr Leben: ein Freund, mit dem es schlecht lief, Engagement in der literaturwissenschaftlichen Vereinigung, Freunde, die einen Sprachaufenthalt in Manchester planten. Ein wohlgeordnetes Leben. Ein normales Leben. Für Jorge war es dennoch fremd. Sie fragte Jorge nach seinen Locken, seiner dunklen Hautfarbe, der schiefen Nase. Er lachte laut los.
    »Du weißt die

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