Spür die Angst
ihn sonst irgendjemand in der Gegend gesehen? Um vier Uhr nachts? Die Bullen würden natürlich bei den Anwohnern nachfragen. Jeden einzelnen Nachbarn in Hallonbergen ausquetschen. Das Risiko, dass ihn jemand beobachtet hatte, bestand. Aber – es war gering. Die Personenbeschreibung würde auch auf tausend andere passen.
Schien also kein Problem zu sein.
Wahrscheinlich würden sie Schuhabdrücke finden, denn draußen war es feucht gewesen. Allerdings hatte Jorge seine Schuhe mit Steinen gefüllt und sie gleich am nächsten Morgen im Edsvik versenkt.
Die größte Gefahr bestand darin, dass Fahdi Verdacht schöpfte. Sein Gewehr in Augenschein nahm. Schmauchspuren entdeckte oder feststellte, dass Patronen fehlten. Das Ganze in Zusammenhang mit dem aktuellen Skandal in der Unterwelt brachte.
Alle spekulierten. Theoretisierten. Analysierten. Abdulkarim mutmaßte, dass es sich um einen Freier handelte, der nicht bezahlen konnte, und Angst hatte aufzufliegen. Der ausgeflippt war und diejenigen, die ihm das Leben zur Hölle machen könnten, um die Ecke gebracht hatte. Fahdi verdächtigte eine andere Jugofraktion. Es kursierten alle möglichen Gerüchte um interne Streitigkeiten. Die Konkurrenz in der Kneipenmafia. JW verdächtigte andere Gangs. Spekulierte, dass es um Marktanteile im Bereich der organisierten Kriminalität in der Stadt ging, um den Krieg zwischen Hells Angels und Bandidos herunterzuspielen.
Jorge hielt sich bedeckt. Es war eine Sache, sich nach einer gewaltlosen Flucht vor einer Gefängnisstrafe für Drogendelikte im Untergrund aufzuhalten. Aber eine ganz andere, nach einem Doppelmord auf der Flucht zu sein.
Seine Hoffnung – dass keine Spuren in seine Richtung wiesen.
Unabhängig davon: Jorge hätte Radovan gerne einen Gruß geschickt. Damit der Jugo wusste, mit wem er es zu tun hatte, und aus welchem Grund. Die Botschaft: Das ist nur der Anfang, die Quittung für das, was du mir und offensichtlich Nadja angetan hast.
Glück im Blutbad – der Computer, den er mitgehen ließ, hatte es unbeschadet überstanden, dass der Stecker rausgezogen wurde. Die Batterien hatten funktioniert. Unglück im Blutbad – man musste sich neu einloggen, Strg/Alt/Entf, Benutzername und Passwort. Jorge kam allein nicht rein. Brauchte Hilfe. Scheiße.
Vielleicht würde er einen Hacker finden, der es schaffte, sich in Stockholms zurzeit meistgesuchten Computer einzuloggen.
Aber nicht heute. Heute würde er Paola treffen.
Er war auf dem Weg zu ihr, zum ersten Mal seit seiner Flucht. Die längste Zeitspanne in seinem Leben, in der sie sich nicht gesehen hatten. Sie hatte ihn in Österåker besucht, ein paar Monate bevor er abgehauen war. Hatte sich darüber beschwert, dass er überheblich geworden sei. Kapierte sie denn nicht, in welchen Kreisen er sich bewegte?
Jorge traute sich zurzeit nicht, irgendwelche Autos zu knacken. Hatte mehr Schiss, in eine Polizeikontrolle zu geraten, als je zuvor. Wenn ihn die Bullen zu fassen gekriegt hätten, bevor er den Zuhälter und die Puffmutter erschossen hatte, wäre er zwar geradewegs wieder in den Knast gewandert. Hätte aber nicht unbedingt weitere Jahre für die Flucht dazugekriegt. Er hatte sie ja glatt über die Bühne gebracht, ohne Gewalt, ohne zusätzliche Verbrechen, ohne etwas, für das man ihn hätte verurteilen können. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass er den gesamten Rest seiner Zeit absitzen musste, ohne Aussicht auf Bewährung. Aber jetzt, nach den Schüssen aus der Schrotflinte in Hallonbergen, hatte sich die Lage geändert. Wenn sie ihn jetzt einbuchteten, würde er lebenslänglich bekommen. Mindestens zwölf Jahre. Seine frühere Angst, geschnappt zu werden, kam ihm heute geradezu lächerlich vor. Jetzt hingegen war es wirklich ernst.
Und dennoch, als Paola ihm eine SMS schickte, hielt es ihn nicht länger zu Hause. Er brauchte ihre beruhigende Art. Brauchte den Kontakt zu seiner anderen Hälfte.
Wie war Paola eigentlich an seine Handynummer gekommen? Er kannte keinen, der sie ihr gegeben haben könnte. Vielleicht Sergio. In dem Fall war es gefährlich. Allein schon zu ihrer eigenen Sicherheit hätte sie seine Nummer nicht haben dürfen. Er musste sie wechseln.
Er fuhr mit den Öffentlichen. Hatte sich sogar eine Fahrkarte gekauft. Schluss mit dem Schwarzfahren.
Stieg in Liljeholmen aus.
Die Station aus Beton war umgebaut. Nach Jorges Auffassung: keine Verbesserung. Die U-Bahn, mit der er gekommen war, fuhr weiter nach Norsborg, während
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