Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman
ausweisen?«
Ich zeigte ihr meine Mitgliedskarte des Law Institutes. Lyall Cronin nahm sie in die Hand, schaute sie sich an, gab sie mir zurück.
»Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt«, sagte sie, als sie die Kette löste.
Sie war irgendwo in den Dreißigern, eine reizlose Frau, geschwungene Nase, hohle Wangen, strenger Blick, ein grünes Hemd aus dem Army-Shop und alte Jeans. Barfuß. Hellere Ovale um die Augen deuteten darauf hin, dass sie an einem sonnigen Ort eine dunkle Brille getragen hatte. Melbourne konnte es also nicht gewesen sein.
Ich folgte ihr einen langen, breiten Flur entlang und um eine Treppe herum. »Ich war gerade in der Dunkelkammer«, sagte sie. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen paranoid vorkomme, aber ich war illegal unterwegs. Die können sich überall Schläger kaufen. Und das machen die auch.«
An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos und Dutzende von gerahmten Fotografien standen auf dem Fußboden. Auf vielen von ihnen waren Frauen und Kinder zu sehen, traurige, stoische Frauen und großäugige Kinder mit laufenden Nasen.
»Normalerweise gerate ich nicht in den Verdacht, ein Schlägertyp zu sein«, sagte ich.
Lyall warf mir über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Sie nehmen jedenfalls genug Raum ein«, sagte sie.
Die Dunkelkammer ging rechts von einem Raum ab, der früher wahrscheinlich mal ein großes Schlafzimmer im Erdgeschoss gewesen war. Darin waren zwei Waschbecken und eine lange, stählerne Bank mit einem Vergrößerungs-gerät an einem Ende. Auf einem Regal über den Waschbecken standen tiefe Schalen. Daneben befand sich ein hohes, schmales Fenster, dessen schwarze, an der Innenseite angebrachte Läden offen standen. Draußen drohte eine Kletterpflanze, die Läden überflüssig zu machen.
Lyall zeigte auf einen Stuhl. Ich setzte mich. Sie ging an ihren Arbeitstisch und nahm ihre Tätigkeit wieder auf: die Ränder von Schwarz-Weiß-Abzügen, ein ganzer Stapel im Format 8 x 10, mit einer Schneidemaschine beschneiden. An einer Ecke anlegen, ausrichten, abschneiden, Vierteldrehung, ausrichten, abschneiden.
»Die hier muss ich heute noch wegschicken«, sagte sie. »Nun, was kann ich Ihnen von Stuart erzählen?«
Schnitt. Sie hatte starke Hände, hervortretende Adern, lange dicke Finger, kurze Nägel.
»Zunächst einmal von seinem Verschwinden.«
»Ich war in Osttimor und Bradley Joffrin, der damals hier wohnte, war auch weg. Er dreht Filme. Hat Disclaimer gemacht. Nein?«
»Nein.«
»In manchen Kreisen ist er ziemlich bekannt. Hat früher anthropologische Dokumentationen gedreht. Wie auch immer, Bradley war weg, irgendwohin, hab vergessen wohin, PNG wahrscheinlich. Er war damals viel in Papua.«
Sie hielt einen Abzug zum Fenster hin ans Licht. »Nein«, sagte sie und warf ihn in einen großen Papierkorb. Ich erhaschte einen Blick auf ein dunkles Gesicht, Kopf leicht geneigt, lächelnd, eine Maschinenpistole im Anschlag.
»Wann war das?«
»Juli '95. Ich kam als Erste zurück, Stuart und Bradley waren nicht hier. Das war nicht ungewöhnlich. Stuart hat nie Nachrichten hinterlassen. Ist einfach gekommen und gegangen, wie's ihm passte, hat nie saubergemacht, nie gekocht, gegessen, was gerade da war, und dann hat er das Geld in die Dose gestopft. Die Hälfte der Zeit war es weniger als sein Anteil, dann war's plötzlich vier Mal so viel. Wie auch immer, wir waren ja seine Mieter.«
»Stuart hat das Haus gehört?«
»Es gehört seiner Schwester. Das spielte aber keine Rolle. Außer dass Stuart sich um das Haus kümmern sollte und sich einen Dreck darum geschert hat. Wir hatten uns daran gewöhnt, haben die Differenz ausgeglichen und von dem, was übrig blieb, eine Putzfrau bezahlt, wenn wir die Nase voll hatten. Wie auch immer, das war eine ziemlich schräge Wohngemeinschaft alles in allem, jeder kam und ging, wie's ihm passte.«
Sie betrachtete wieder einen Abzug, verdeckte einen Teil mit der Hand, schien mich vergessen zu haben. Ich wartete.
»Nein«, sagte sie und ließ den Abzug in den Papierkorb segeln. Nahm einen weiteren, betrachtete ihn kritisch, legte ihn aufs Schafott. Schnitt.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Manchmal fragt man sich echt, wer das Bild gemacht hat. Bradley kam ein paar Tage nach mir zurück und ungefähr, äh, ich schätze mal eine Woche danach rief Stuarts Schwester an. Kate. Sie arbeitet als Textildesignerin in Schottland. Ihre Eltern sind tot, irgendeine traurige Geschichte. Sie hat's mir mal eines Nachts erzählt, als sie hier geschlafen
Weitere Kostenlose Bücher