Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman
Nie.«
Lyall trank das Bier aus und suchte im Kühlschrank nach einem weiteren. Ihr Haar glitt nach vorn und fiel ihr ins Gesicht. »Sicher?«, fragte sie, richtete sich auf, warf ihr Haar zurück, hielt eine langhalsige Flasche Miller's hoch. »Ich bewege mich jetzt ins hochwertigere Marktsegment.«
»Ich bin mir sicher.« Sie war ganz und gar nicht reizlos. Markante Wangenknochen.
»Hätte Stuart vielleicht einen Grund gehabt zu verschwinden?«
»Das haben die auch gefragt. Und Bradley und ich mussten sagen, dass wir nicht die geringste Ahnung hatten. Wir hatten mit Stuart für drei oder vier Jahre das Haus geteilt, und wir wussten rein gar nichts über ihn. Wir mochten ihn, mochten seine Gesellschaft, ohne irgendwas über ihn zu wissen. Schockierend. Ich wusste mehr über seine Schwester, und die war nur ein einziges Mal hier gewesen.«
»Hat er nie über seine Arbeit geredet?«
»Hm, nein. Er hat über Storys geredet, von denen er meinte, dass man sie mal schreiben sollte. Da konnte er sehr leidenschaftlich werden. Immer über die CIA . Aber wenn man ihn gefragt hat, woran er gerade arbeitet, dann hat er immer so was gesagt wie: ›Ach, so dies und das.‹«
»Aber er hat sein Geld als freier Journalist verdient?«
Irgendwo im Haus begann ein Telefon zu klingeln. Lyall stellte ihre Bierflasche ab und verließ die Küche. Ich trat an die Verandatür. Sie führte auf einen kleinen, gepflasterten Innenhof hinaus, der von hohen, mit Kletterpflanzen bewachsenen Mauern umgeben war. Die Pflanzen in den Terrakottakübeln waren entweder tot oder todkrank. Überall lagen Blätter in großen Haufen, gelbe, braune, rote.
»Eine Schande, nicht wahr?«
Lyall war hinter mich getreten. Ich drehte mich um. Sie hatte die Hände in die Taschen gesteckt, die Daumen eingehakt, das Becken vorgeschoben. Das Bier hatte ihre Wangen leicht gerötet. Ihr Hals war lang, das Schlüsselbein zeichnete sich deutlich ab. Wie hatte ich nur auf »reizlos« kommen können? Wie kommt man zu solchen Urteilen?
Einen Moment lang blickten wir uns an.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte ich.
Sie wandte sich ab und ging zum Tisch zurück, setzte sich, nahm ihr Bier wieder in die Hand. Ich folgte ihr, nahm ebenfalls meinen Platz wieder ein.
»Die wollen, dass ich morgen nach China fliege«, sagte sie, fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar, strich es nach hinten, so dass der starke Ansatz zu sehen war. »Wenn ich das nicht möchte, machen es fünfzehn andere Hoffnungsvolle, und die wären notfalls auch bereit, von Darwin aus hinzuschwimmen. Die Kameras um den Hals gebunden.«
»Fliegen Sie?«
Sie trank die Flasche aus, stand auf und ging zum Kühlschrank. »Ich habe gesagt: ›Dann lasst den Darwin-China Schwimmmarathon für Möchtegerns beginnen.‹ Ich werde schlafen, essen, rumlaufen, trinken, lesen, schlafen, essen, rumlaufen, lesen, trinken, schlafen. So lange, bis ich das hier auf die Reihe gebracht habe.«
»Stuart hat seinen Lebensunterhalt womit verdient …?«
Wieder das schiefe Grinsen. »Zurück zur Tagesordnung, Mr. Irish. Ich glaube nicht, dass Stuart seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Keinerlei Anzeichen dafür. Kate hat immer den Eindruck gemacht, als hätten ihre Eltern ihnen haufenweise Geld hinterlassen. Stuart ist in Amerika auf die Highschool gegangen, dann auf die Journalism School an der Columbia. Seine Eltern haben damals in den Staaten gelebt. Beide Akademiker. Stuart war viel auf den Philippinen, hat mal an einem Buch zu dem Thema gearbeitet. Er hat auch Sachen in Mother Jones veröffentlicht.«
Sie sah meinen verständnislosen Blick.
»Das ist aus Amerika. Eine Art populärwissenschaftliches Magazin. Hab's schon länger nicht mehr gesehen. Viel über die Verschwörung des militärisch-industriellen Komplexes. Aber nicht versponnen. Links, amerikanisch, sehr ernst, bisschen dünn, was die Theorie angeht.«
»Bei mir ist es auch ein bisschen dünn, was die Theorie angeht. Mit der Praxis ist es allerdings auch nicht besonders weit her. Hat Stuart hier gearbeitet?«
»Er benutzte den Raum neben seinem Schlafzimmer als Büro.« Sie trank einen Schluck Bier. »Benutzte? Er hat es immer noch. Wir haben nie irgendwas angerührt. Immerhin ist er noch nicht offiziell für tot erklärt worden. Kate wollte das nicht beantragen. Sie ist felsenfest davon überzeugt, dass er irgendwo lebendig rumläuft, dass er sein Gedächtnis verloren hat und irgendwann zurückkommt.«
»Und was denken
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