Spuren des Todes (German Edition)
handelte, schon waren die belastenden Erinnerungen wieder da und warfen mich aus der Bahn.
Bei anderen Leichen hatte ich keine Probleme. Wie gesagt, ich ging wieder ganz normal zur Arbeit, beziehungsweise ich fuhr, entweder nach Portsmouth, nach Fulham oder nach Haringey, wie gehabt. Es machte mir auch nichts aus, als ich drei oder vier Monate nach Chris’ Unfall einen Auftrag auf den Tisch bekam, bei dem es nur um einen Kopf ging, oder vielmehr um die Reste eines Schädels. Das war wieder in der Mortuary in Fulham. An dem Tag hatte ich die Leichen von drei alten Leuten zu obduzieren, zwei Männer, eine Frau. Und dann stand noch ein Pappkarton auf der Anrichte im Sektionssaal, wo ich immer das Klemmbrett mit meinen Notizen hinlegte. Er hatte ungefähr die Größe eines Umzugskartons. Was ich darin finden würde, hatte ich vorher auf dem Coroner’s Officers Report gelesen: Teile eines menschlichen Schädels.
Ich nahm sie heraus und setzte sie so weit wie möglich zusammen. Nach dieser Puzzlearbeit war Folgendes klar: Ich hatte einen Teil eines Hirnschädels vor mir, inklusive des Stirnbereichs, dazu vier Hinterhauptschädelfragmente, das linke Jochbein, ein Teil des linken Schläfenbeins, der auch Warzenfortsatz genannt wird, und ein Stück vom Oberkieferknochen. Es lagen noch zwei andere Knochenfragmente in dem Karton, aber das waren Tierknochen.
Mein Auftrag war herauszufinden, ob es sich bei den Schädelresten um die einer Frau handelte. Und falls ja, ob man sagen konnte, wie alt die Frau ungefähr gewesen war, als sie starb. Außerdem versprach sich die Polizei, die den Karton gebracht hatte, Informationen darüber, aus welcher Zeit der Schädel stammte.
Das alles hatte einen ziemlich spektakulären Hintergrund: Die Schädelknochen waren vier Tage zuvor bei Bauarbeiten im Garten von Sir David Attenborough gefunden worden. Attenborough ist ein bekannter Tierfilmer und Naturforscher, mehrfach preisgekrönt. Er wohnt in Richmond, einem Stadtteil im Südwesten Londons, und dort in der Park Road. Seine Wohnadresse wurde durch den Fund weit über die Grenzen Englands hinaus bekannt. Der damals Fünfundachtzigjährige hatte einen ehemaligen Pub gekauft, der
The Hole in The Wall
hieß und sich auf dem angrenzenden Nachbargrundstück befand. Die Bauarbeiten waren veranlasst worden, um den rückwärtigen Teil des Gebäudes abzureißen. In der Erde darunter waren die Männer auf das Schädelfragment und die einzelnen Knochenstücke gestoßen.
Aber das wäre noch nicht die Sensation gewesen. Erst als man bei der Polizei die Verbindung zu einem alten – sehr alten – Kriminalfall herstellte, wurde es interessant. Ganz in der Nähe des Hauses von David Attenborough hatte sich hunderteinunddreißig Jahre zuvor ein Mord ereignet, der im viktorianischen Großbritannien für allerlei Aufsehen sorgte und als »Barnes Mystery« in die britische Kriminalgeschichte einging. Barnes deshalb, weil Körperteile des Opfers später in der Nähe der Barnes Bridge in einer Holzkiste aus der Themse gefischt wurden.
Aber der Reihe nach: Die Geschichte beginnt im Januar 1879 , als die fünfundfünfzigjährige Witwe Julia Martha Thomas eine neue Hausmagd anstellte. Die hieß Catherine »Kate« Webster und war mit ihren neunundzwanzig Jahren bereits mehrfach wegen Einbruchs, Betrugs und Diebstahls vorbestraft, hatte auch schon im Gefängnis gesessen. Eine Weile ging es gut mit den beiden Frauen, etwa zwei Monate, dann zerstritten sie sich, die Hausherrin kündigte ihrer Angestellten. Allerdings ohne sie direkt vor die Tür zu setzen.
Was dann am ersten Märzsonntag desselben Jahres in Julia Thomas’ Haus geschah, ließ sich hinterher nicht zweifelsfrei ermitteln. Es kursierten verschiedene Versionen über das Tatgeschehen. Die Täterin selbst, Kate Webster, setzte unterschiedliche in die Welt. Die Letzte präsentierte sie wenige Stunden bevor sie wegen Mordes hingerichtet wurde: Mrs. Thomas und sie hätten an besagtem Tag eine Auseinandersetzung gehabt, die zu einem handfesten Streit ausgeartet sei. Dabei sei sie so wütend geworden, dass sie die gestrenge Hausherrin die Treppe hinuntergestoßen habe. Durch den Sturz sei diese schwer verletzt worden und habe angefangen, laut zu schreien. Da sei sie, Kate, in Panik geraten, habe jegliche Kontrolle über sich verloren, die ältere Frau am Hals gepackt und so lange zugedrückt, bis sie sich nicht mehr rührte.
Ob dieses Geständnis die Wahrheit wiedergab, blieb ein Rätsel. Blutspuren
Weitere Kostenlose Bücher