Spurlos in der Nacht
erschlagen.
Alf Boris Moen verkleidete sich als Frau. Besaß er auch noch andere gefährliche Geheimnisse? Plötzlich wusste er es einfach. Nicht Solveig Wettergren war psychisch krank. Sie hatte nichts mit der Sache zu tun. Bei der geheimen Freundin, die Frau Adamsen erwähnt hatte, handelte es sich nicht um Solveig Wettergren und auch um keine andere Frau, sondern um Alf Boris Moen selber. Randi hatte Recht gehabt mit ihren dauernden Bemerkungen darüber, wie seltsam es doch sei, dass Moen keine Freunde hatte. Aus der Perspektive des Psychopathen waren andere Personen unwichtig. Psychopathen nahmen Menschen nicht wichtiger als Gegenstände.
67
Er hatte den blauen Mantel angezogen. In einem kleinen Zimmer außerhalb des Luftschutzraumes hatte er ein Kleiderlager angelegt. An einem Nagel in der Mauer hing ein Spiegel. Er war mit seinem Aussehen ziemlich zufrieden, bis sein Blick auf seinen Bauch fiel. Er trug eine dicke Goldkette um den Hals. Und wie immer ragte die Waffe aus der braunen Handtasche. Er zog den Riegel zurück und öffnete die schwere Tür. Kathrine setzte sich mit Mühe auf und lehnte den Rücken an die Wand. Sie hatte die eine Krücke hinter der Matratze versteckt, für alle Fälle. Er durfte sie nicht sehen. Der Onkel musterte Kathrine höhnisch. Er hatte wieder den grell orangenen Lippenstift benutzt. Sie wollte schon sagen, wie scheußlich das aussehe, riss sich aber zusammen. Sie musste mitspielen. Sagen, dass er hübsch sei, ein schönes Kleid habe, dass das Parfüm wunderbar rieche, solche Dinge. Sie fand es schrecklich, wenn er seine Stimme hell klingen ließ. Sie wusste, dass sie nur aus dem einen Grund noch lebte, dass sie seine Zuschauerin war. Er liebte es, vor ihr zu posieren, sich gute Ratschläge in Bezug auf sein Aussehen geben zu lassen.
«Wo du dich doch so für Kleider interessierst», sagte er immer.
Ihr Rücken tat weh. Die Muskeln waren steif und verkrampft. Sie schloss die Augen und merkte, wie die Angst die Tränen in ihre Augen presste. Etwas war an diesem Tag anders. Die Tränen flossen über, liefen über ihre Wangen. Die schreckliche Trauer überwältigte sie.
Plötzlich sah sie ein Bild klar vor sich. Sie saßen an Omas Küchentisch. Wie alt mochte sie gewesen sein? Fünf Jahre vielleicht. Oma hatte ihr eine Perlenkette geschenkt und sie ihre kleine Prinzessin genannt. Plötzlich, als die Oma ihr den Rücken zukehrte, hatte ihr Onkel sie in den Arm gekniffen. Zugleich füllte ihre Nase sich mit einem köstlichen Duft. Selbstgemachte Himbeermarmelade, die auf dem Herd stand. Der Schmerz durchfuhr ihren Oberarm wie ein Blitz.
Sie weinte, aber Oma wollte ihr nicht glauben, als sie erzählte, dass Onkel Alf sie gekniffen hatte. Der Onkel war aufgesprungen, um einen feuchten Lappen zu holen. Das war sicher eine Wespe, sagte Oma und beugte sich über sie. Schon damals wusste sie, dass ihr Onkel gefährlich war. Und dieses Wissen war ihr seither geblieben. Im tiefsten Herzen. «Das macht doch nichts, Mutter. Soll sie es nur glauben.» Er wärmte ihre Hände. Ihre Fingerspitzen fühlten sich an seiner Haut taub an. Seine Hüfte stieß gegen ihren Kopf, als er sich erhob. Ein schlauer Mann, dachte sie. Aber ich habe ihn durchschaut. Man gab ihr von der Himbeermarmelade auf den Teller. Aber die Marmelade schmeckte nicht nur rot, sie schmeckte auch schwarz. Und gelb, wie Rhabarber. Plötzlich kam eine echte Wespe. Sie kam von nirgendwo und setzte sich auf den Silberlöffel. Der Onkel schaute die Oma viel sagend an. Aber Kathrine wusste Bescheid. Der süße Geruch der gekochten Himbeeren füllte ihren Kopf. Und plötzlich fegte sie ihren Teller zu Boden, und die Wespe verschwand zwischen den Scherben auf dem harten Boden. Dann schrie sie. Ein Schrei, der tief unten in ihrem Bauch anfing und den sie seither in ihren Träumen immer wieder erlebte.
Der Onkel musterte sie von oben herab. «Du hättest doch von deinem Vater jede Menge geerbt. Diesem Immobilienschieber. Der scheißt doch Geld. Warum hättest du das andere also auch noch bekommen sollen?»
«Ich habe doch um nichts gebeten», schrie Kathrine und hob eine Hand über die Augen. Plötzlich brach sie in lautes Schluchzen aus. Ihre Brust hob und senkte sich dabei.
Der Onkel sah schweigend zu. Er schien einzusehen, dass er zu weit gegangen war. Aber dann riss er sich zusammen und redete weiter: «Du siehst doch sicher die Konsequenzen ein, nicht wahr? Helena muss ebenfalls sterben», fügte er gelassen hinzu.
Kathrine
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