Spurlos in der Nacht
Sigrid.
«Und der Stiefvater», sagte Roger Høibakk. «Wie ist seine Beziehung zu Kathrine?»
«Er ist nicht ihr Stiefvater. Dieses Wort benutzen wir nicht. Tage ist mein Freund. Und ich finde, er geht ihr gegenüber viele Kompromisse ein. Er ist immer für sie da.»
«Erzählen Sie uns ein wenig über Kathrines Freund», bat Cato Isaksen.
«Über Kenneth?» Helena Bjerke hatte die vielen Fragen deutlich satt. «Eigentlich mag ich ihn leiden», sagte sie und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
«Eigentlich?»
«Ja, er ist vielleicht ein bisschen träge», sagte sie müde. «Aber er ist nett. Ich habe nichts gegen ihn.»
«Sie glauben also nicht, dass er auf irgendeine Weise mit der Sache zu tun haben kann?»
«Natürlich nicht.»
Cato Isaksen und Roger Høibakk musterten sie schweigend. Nach einer kleinen Weile redete sie weiter.
«Es kann schon sein, dass er ein wenig zuviel trinkt und zuviel feiert. Aber so sind die jungen Leute heute eben. Kathrine hängt jedenfalls sehr an ihm.»
«Aber sie ist doch erst vierzehn.»
«So ist das heute», sagte sie resigniert.
«Was haben sie für eine Beziehung, was glauben Sie?», fragte Cato Isaksen und setzte sich bequemer hin.
«Sie hat gesagt, dass sie noch nicht miteinander im Bett waren, wenn Sie das meinen sollten.» Helena Bjerke wirkte plötzlich unsicher. «Sie haben doch nicht etwa irgendetwas festgestellt?» Sie setzte sich gerade. «Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?»
«Nein», sagte Cato Isaksen freundlich.
Helena Bjerke atmete erleichtert auf. «Sie ist auch im Fjord gesucht worden. Und in ziemlich weitem Umkreis im Wald.»
«Dass ein Kind auf diese Weise verschwindet, ist das Schlimmste, was passieren kann», sagte Roger Høibakk entgegenkommend.
«Ich habe seither sieben Kilo abgenommen. Ich kann einfach nichts essen. Ich rauche nur. Und ich laufe die ganze Zeit hin und her. Suche und suche. Tage hat mich oft begleitet, aber jetzt hat er es satt, und deshalb ziehe ich allein los.»
«Es werden immer viele Jugendliche vermisst», sagte Roger Høibakk und nahm die Sonnenbrille ab.
«Im Moment sind es vierundzwanzig», fügte Cato Isaksen hinzu. «Die allermeisten finden sich wieder ein», sagte er dann noch tröstend.
Helena Bjerke wandte sich ab und schaute hinaus auf den Drøbaksund.
«Ich habe so schreckliche Angst, sie plötzlich zu finden, wenn ich unterwegs bin», sagte sie. «Dass sie vor mir auf dem Boden liegt und tot ist.»
Beide Ermittler schlugen die Augen nieder.
«Sie muss tot sein.» Helena Bjerke leerte ihr Glas. «Sie wird seit sechzehn Tagen vermisst. Ich habe mich krankschreiben lassen müssen. Ich kann einfach nicht zur Arbeit gehen.»
Cato Isaksen musterte sie mit ernster Miene. «Sie arbeiten in einer Reinigung, nicht wahr?»
«Ja, oben im City Drøbak.»
«Hat Kathrine Bekannte im Ausland?»
«Im Ausland?»
«Leute, die sie zum Beispiel in den Ferien am Mittelmeer kennengelernt hat?»
«Wir waren noch nie am Mittelmeer. Und sie ist nicht freiwillig verschwunden, wenn Sie das meinen sollten. So ist sie nicht. Sie hätte mir Bescheid gesagt, sie hätte nicht gewollt, dass ich mich um sie ängstige.»
Roger Høibakk suchte Cato Isaksens Blick. Die Stille wurde nur vom Autolärm aus der Ferne und einigen kleinen Vögeln unterbrochen, die in ihrer Frühlingslaune in einer Kiefer jubilierten.
Als Helena Bjerke sie durch das Wohnzimmer zur Haustür führte, fiel Cato Isaksen ein Kinderbild der vermissten Tochter auf. Es hing hinter dem Sofa an der Wand und befand sich in einem dicken braunen Rahmen. Ihre Augen lächelten in die Kamera. Sie hatte oben keine Zähne und ihre blonden Haare waren zu zwei starren Zöpfchen geflochten.
3
Kenneth Hansen sah zwei Paar Beine an seinem Kellerfenster vorübergehen. Er ließ sich auf die Kissen zurücksinken und fluchte inniglich, griff nach der Fernbedienung und drückte die Musik leiser, die aus zwei großen Lautsprechern strömte. Einige Minuten später hörte er die Polizei die Treppe herunterkommen. Seine Mutter öffnete die Tür des Kellerraumes.
«Kenneth», begann sie, und sie benutzte ihre irritierende besorgte Stimme. Sein Gesicht war heiß, sein Hals wie ausgedörrt. Unter seinen Armen strömte der Schweiß.
Cato Isaksen musterte den ungepflegten Sechzehnjährigen, der auf dem unordentlichen Sofa herumlungerte. Er war dicklich und trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit rotem Aufdruck und weißer Schrift. SOFT, stand quer über seiner Brust. Seine
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