Spurlos in der Nacht
Bruder?» Cato Isaksen hörte selbst, wie brutal diese Frage klang, aber es gehörte zu seiner Vernehmenstechnik, rasch von einem Thema zum anderen überzuspringen.
«Ob er trinkt?» Helena Bjerke blickte ihn verständnislos an. «Wie meinen Sie das?»
«Wir hatten gestern Abend, als wir ihn über den Tod Ihrer Mutter informiert haben, den Eindruck, dass er nach Alkohol roch», sagte Roger Høibakk begütigend.
«Nein», sagte sie. «Das glaube ich nicht. Er trinkt nicht.»
Vielleicht wollte er seine Nerven beruhigen, dachte Cato Isaksen.
«Aber es wäre vielleicht möglich, dass er wegen der Sache mit Kathrine ein Glas gebraucht hatte», sagte sie nachdenklich. «Das macht ihm gewaltig zu schaffen.»
«Natürlich», sagte Roger Høibakk. «Was für eine Beziehung haben Sie zu Ihrem Bruder?»
Helena Bjerke drückte energisch ihre Zigarette aus. Für einen Moment wirkte sie unsicher und schien zuerst einmal nachdenken zu müssen.
«Alf ist der beste Bruder, Onkel und Sohn, den Sie sich vorstellen können», sagte sie dann voller Überzeugung. «Ich weiß nicht, was ich ohne ihn getan hätte. Seit Kathrines Verschwinden hat er mich jeden zweiten Tag besucht. Alf Boris kümmert sich immer. Er ist derjenige, der die Familie zusammenhält. Natürlich gibt es da nicht viel zusammenzuhalten.» Sie schloss die Augen und ihr Mund zitterte wieder bedrohlich. «Jetzt sind nur noch er und ich übrig», fügte sie traurig hinzu.
Die Fahnder schwiegen. Die Frau vor ihnen verzog wütend das Gesicht, unter ihre Trauer schien sich nun auch Wut zu mischen.
«Ich habe ein Valium genommen», sagte sie. «Deshalb kann ich hier sitzen und mit Ihnen reden.»
Cato Isaksen wandte sich ab und vertiefte sich wieder in den Anblick der Landschaft. Vor allem, um in den Gesprächspausen etwas zu tun zu haben, sonst hätte er die Lage unerträglich gefunden.
Ein Windstoß stahl sich unter seine Jacke und sein Rückgrat hinauf.
«Wissen Sie, was das Schlimmste ist?» Helena Bjerke rutschte unruhig hin und her. «Bald, in einigen Wochen, werden hier an allen Fahnenstangen die Flaggen wehen. Am 13. Mai. An Kathrines Konfirmationstag. Wir wollten ein großes Fest feiern. Die Gästeliste war schon aufgestellt. Ich hatte sogar Servietten gekauft. Rosa, mit Schmetterlingen. Sie wollte sich konfirmieren lassen, nicht zur Jugendweihe gehen, wie viele aus ihrer Klasse das machen.»
«Bis zum 13. Mai ist es noch lange hin», sagte Cato Isaksen.
Helena Bjerke schüttelte den Kopf. «Das glauben Sie doch selbst nicht», sagte sie leise.
Cato Isaksen wartete ein Weilchen, ehe er wieder etwas sagte.
«War sie denn religiös?» Sein Blick fiel plötzlich auf die Zeitung, die Kathrine auf der ersten Seite zeigte. Die Zeitung steckte halbwegs unter dem Kissen, auf dem ihre Mutter saß.
Helena Bjerke schüttelte den Kopf.
«Sie war überhaupt nicht religiös», sagte sie. «Ihr Vater hat sie zur Konfirmation überredet, er fand, sie solle sich an die Familientraditionen halten. Für ihn war die Etikette immer das Wichtigste.»
«Wir haben noch nicht mit ihm gesprochen», sagte Cato mit ernster Stimme. «Ich werde mich morgen an ihn wenden.»
«Er kann Ihnen auch nichts sagen.» Kathrines Mutter nahm sich noch eine Zigarette. Sie zog ausgiebig daran und legte das rosa Feuerzeug auf den abgenutzten Verandatisch. «Aber lassen Sie Tage in Ruhe. Es gibt so viele Gerüchte», fügte sie dann hinzu.
«Was für Gerüchte?» Roger Høibakk zog eine Ray-Ban-Sonnenbrille aus seiner Lederjacke und setzte sie auf.
«Es gibt so viele törichte Gerüchte», sagte sie noch einmal. «Dass er etwas damit zu tun haben könnte und so.»
«Mit Kathrines Verschwinden, meinen Sie?»
«Ja. Aber das ist nur Unsinn. Dorfklatsch. Er hat nichts damit zu tun», erklärte sie. «Er war zu Hause an dem Abend, an dem Kathrine verschwunden ist.»
Cato Isaksen zögerte kurz.
«Sind Sie verheiratet?», fragte er dann.
«Ich habe doch schon gesagt, dass er mein Freund ist. Wir wohnen seit fünf Jahren zusammen.»
«Warum gibt es aber solche Gerüchte?» Roger Høibakk spielte entwaffnend an seiner Sonnenbrille herum.
«Ja, warum.» Helena Bjerke zuckte resigniert mit den Schultern. «So ist das wohl einfach. Die Leute reden. Ich meine, die anderen Bekannten von Kathrine, deren Eltern neue Partner haben, finden das ja auch schwierig. Das ist nun einmal so.»
«Ja, ich verstehe», sagte Cato Isaksen und dachte an seine älteren Söhne und deren Beziehung zu
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