Spurlos in der Nacht
«Aber das war irgendwie so bombastisch. Meine Großmutter war Russin, wissen Sie. Kathrines Urgroßmutter.» Ein kleines, bissiges Lächeln spielte um ihre Lippen. «Sie war 1905 mit achtzehn Jahren nach Norwegen gekommen. In dem Jahr, in dem Norwegen unabhängig wurde. Sie bekam nur ein Kind, meine Mutter. Damals war sie vierzig.»
Die Fahnder betrachteten sie schweigend.
«Und deshalb haben wir sie Kathrine genannt», sagte sie und trank noch einen Schluck von ihrer Cognacmilch.
«Haben Sie noch andere Kinder?» Cato Isaksen füllte seine Lunge mit der frischen Seeluft.
«Nein.»
«In der Nacht, in der Kathrine verschwunden ist. Wieso war sie da so spät noch unterwegs?»
«Das weiß ich nicht.» Helena Bjerke musterte ihn müde. «Sie ist sonst immer spätestens um halb elf zu Hause.»
Cato Isaksen fand das ziemlich spät, mitten in der Woche und für eine Vierzehnjährige, sagte aber nichts dazu.
«Wir waren ziemlich sauer, Tage und ich. Mein Freund», fügte sie erklärend hinzu. «Wir konnten ja nicht schlafen gehen. Wir waren wirklich wütend auf sie. Erst so gegen eins oder halb zwei bekam ich es dann mit der Angst zu tun.»
«War das nicht arg spät?»
«Das schon, aber Sie kennen Kathrine nicht. Sie hat uns oft provoziert, und ich wusste, dass sie wütend auf Tage war.»
«Warum das?»
«Sicher hatte er ihr irgendwas verboten. Er ist strenger als ich. Und auch das kann ein Problem sein.»
«Aber gegen eins oder halb zwei, da ging Ihnen auf, dass etwas passiert sein könnte?»
«Ich wusste es ja nicht, und ich konnte doch so spät niemanden mehr anrufen und fragen, ob die etwas gehört hätten. Also haben Tage und ich uns angezogen und auf die Suche gemacht. Zuerst sind wir zu Kenneth gegangen.»
«Ihrem Freund?», warf Cato Isaksen dazwischen.
Helena Bjerke nickte.
«Bei ihm war alles dunkel. Deshalb haben wir es bei Maiken versucht, ihrer besten Freundin. Auch dort war alles dunkel. Ich konnte Mutter so spät nicht stören, also rief ich Alf an, doch der schlief wohl schon. Tage ging zum Boot, um zu sehen, ob sie dort war, ich ging nach Hause, weil ich dachte, sie könnte inzwischen gekommen sein. Eine Stunde daraufhaben wir die Polizei alarmiert. Inzwischen war es kurz nach drei.»
«Sie haben also ein Boot?»
«Das gehört Tage. Es liegt hier unten im Hafen.»
«Was für eine Beziehung hatte Kathrine zu Ihrer Mutter?» Roger Høibakk merkte, wie trotz der Sonne die kühle Meeresluft seine Beine hochwanderte.
Helena Bjerke machte ein erschrockenes Gesicht und schien für einen Moment vergessen zu haben, dass ihre Mutter ermordet worden war.
«Meine Mutter war», begann sie und musste sich gewaltig zusammenreißen, um nicht wieder in Tränen auszubrechen. Energisch rieb sie sich die Augen. «Meine Mutter war der liebste Mensch auf der Welt», sagte sie dann. «Und sie liebte Kathrine. Ihr einziges Enkelkind. Und Kathrine liebte sie», fügte sie traurig hinzu. Sie verstummte für einen Moment. Nicht schon wieder weinen, dachte Cato Isaksen resigniert. Ihm ging auf, dass er im Laufe der Jahre immer ungeduldiger wurde, wenn er es mit Betroffenen zu tun hatte. Roger konnte damit besser umgehen.
Helena Bjerke wandte sich ein wenig ab. Ihr Gesicht hatte jetzt eine maskenhafte Prägung. Ihre Augen waren leer.
«Besteht vielleicht ein Zusammenhang zwischen beiden Fällen? Sind Sie deshalb gekommen?»
«Das wissen wir nicht», sagte Roger Høibakk vorsichtig.
«Aber deshalb sind Sie gekommen», wiederholte sie.
«Wir müssen wohl zugeben, dass wir uns vor allem um den Mord an Ihrer Mutter kümmern», sagte Cato Isaksen. «War Kathrine am Tag vor ihrem Verschwinden oder in den Tagen davor mit ihrer Großmutter zusammen?»
«Nicht am Tag ihres Verschwindens, aber zwei Tage vorher hatte sie sie besucht. Dabei hatte sie sich den Knöchel gebrochen. Sie war die Treppe hinuntergefallen.»
Die Ermittler tauschten einen Blick.
«Wir haben ja gelesen, dass sie Krücken benutzte», sagte Cato Isaksen. «Bitte, machen Sie uns eine Liste, wenn Sie die Kraft finden, über den Bekanntenkreis Ihrer Mutter. Über Freunde ... und Feinde.»
«Meine Mutter hatte keine Feinde», fiel Helena Bjerke ihm empört ins Wort.
«War sie wirklich mit keinem Menschen zerstritten?»
«Nein, ganz und gar nicht.»
«Aber wenn Sie an frühere Zeiten denken, könnte es dann sein ...»
«Meine Mutter hatte keine Feinde», wiederholte Helena Bjerke mit scharfer Stimme. «So war sie nicht.»
«Trinkt Ihr
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