Spurlos in der Nacht
doch alles Mögliche ab», sagte Cato Isaksen. «Kaum haben sie es mit der Polizei zu tun, scheint ihnen jeder Kleinkram ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber da sag ich dir ja nichts Neues.»
Roger Høibakk nickte zerstreut. Als sie am Vergnügungspark Tusendfryd vorbeifuhren, der bis zum Sommer geschlossen war, waren sie bereits seit dreißig Minuten unterwegs. Zehn Minuten daraufhatten sie Drøbak erreicht.
2
Helena Bjerke sass auf der Veranda und zog den Zigarettenrauch tief in ihre Lunge. Sie hatte den Hinterkopf an die Wand gelehnt und die Augen halb geöffnet. Ihr Blick wanderte langsam hin und her, aber in Wirklichkeit nahm sie nichts wahr. Sie ließ die Landschaft, in der das Meer einen blaugrauen Streifen am Bildrand bildete, diffus vorübergleiten, ohne darauf zu achten. Sie zog noch einmal ausgiebig an ihrer Zigarette. Merkte, dass ihre Hand ein wenig zitterte, dann schloss sie die Augen wieder. Die Sonne beschien ihren Körper mit der abgenutzten Daunenjacke und den schwarzen Jeans. Sie spürte, wie das Licht ihr müdes Gesicht erwärmte.
Helena Bjerke war aufgefallen, dass ihr Körpergeruch sich verändert hatte. Sie roch nach Angst und nach Trauer. Was war mit Kathrine passiert? Das Bild ihrer Tochter wurde in ihrem Kopf immer größer. Vielleicht würde sie bald den Verstand verlieren. Ihr Gehirn lief im Leerlauf. Tag und Nacht. Dass ihre Mutter ermordet worden war, konnte sie einfach nicht fassen. Dieser Schock hatte sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen und das andere Chaos noch verstärkt. Sie lebte in einem Albtraum. Das hier war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Vor zehn Minuten erst hatte sie mit ihrem Bruder gesprochen. Er hatte geweint und war völlig außer sich gewesen. Sie konnte ihn nicht trösten, und Alf Boris hatte keinen Trost für sie. Er hatte gesagt, er werde nachmittags noch vorbeischauen.
Die Fahnder fanden Helena Bjerke so vor, sie saß auf der unordentlichen Veranda, wo alte Gartenmöbel vor der einen Wand aufgestapelt waren. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas mit hellbraunem Inhalt. Ihr weißes Gesicht war von Tränen verschmiert.
Sie schaute hilflos zu dem blonden Polizisten auf, der jetzt vor ihr stand. Er sah freundlich aus. Er stellte sich und seinen Kollegen vor. Sie nickte kurz und hatte die Namen sofort wieder vergessen.
Cato Isaksen drehte sich um und schaute hinaus auf das Wasser. Die schöne Umgebung bildete einen grellen Kontrast zum Schicksal dieser Frau. Er nahm einen Stuhl von dem Stapel an der Wand. Er reichte ihn Roger Høibakk und nahm sich selbst auch einen. Helena Bjerke kam ihm fast apathisch vor. Wahrscheinlich war das auch kein Wunder, sie hatte ja gerade erst von dem Mord an ihrer Mutter erfahren. Cato Isaksen hasste solche Termine. Manchmal ertappte er sich aber auch bei der bitteren Freude darüber, dass es hier nicht um ihn selbst ging.
«Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen», sagte er in bedauerndem Tonfall.
«Ich trinke Milch mit Cognac», sagte Helena Bjerke. «Das hat meine Mutter immer getan, wenn sie krank war. Sie hat es uns sogar gegeben, wenn wir erkältet waren. Alf und mir, als wir klein waren», fügte sie hinzu, beugte sich vor und schloss die Hand um ihr Glas.
«Das mit Ihrer Tochter ...»
Helena Bjerke trank einen Schluck, setzte das Glas dann hart auf den Tisch und ließ die Tränen kommen. Sie hatte mit so vielen über Kathrines Verschwinden gesprochen. Mit Freundinnen, Bekannten, Verwandten, Nachbarn und mit der Polizei. Es hatte nichts geholfen. Sie hatten sie nicht gefunden.
Roger Høibakk sagte etwas über die wunderschöne Aussicht. Er litt an der fixen Idee, dass er traurige Menschen von ihrem Kummer ablenken könnte, wenn er über Belanglosigkeiten sprach. Manchmal konnte das richtiggehend unpassend wirken. So wie jetzt. Cato Isaksen musterte ihn irritiert, dann drehte er sich pflichtschuldig um und sah eben noch die Fähre nach Dänemark, die gerade aus seinem Blickfeld verschwand, und Hurumlandet, das sich auf dem anderen Ufer dahinzog.
Roger Høibakk lächelte die Frau an. Und Helena Bjerke schien zu erwachen. Sie drückte energisch ihre Zigarette im Aschenbecher aus, zog ihre Daunenjacke fester um sich zusammen.
«Sie müssen das klären», sagte sie mit harter Stimme. Es war keine Bitte, es war eine Ermahnung.
«Wir werden tun, was wir können», sagte Cato Isaksen.
Helena Bjerke hielt seinen Blick fest.
«Sie sollte eigentlich Katharina heißen, nach ihrer Urgroßmutter», sagte sie.
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