Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spurlos in der Nacht

Spurlos in der Nacht

Titel: Spurlos in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unni Lindell
Vom Netzwerk:
vor. Einsam, einsam, einsam. Er trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Warum hatte er sich nicht mehr Zeit genommen, um sie häufiger zu besuchen? Vor zehn Tagen war sie an Lungenentzündung erkrankt, und in der ganzen Zeit hatte er sich nicht bei ihr blicken lassen.   
    Er glaubte nicht an Gott. Wenn wir sterben, kehren wir heim. Heim wohin? Heim ins große Nichts vielleicht. Ja, heim ins große Nichts.
    «Papa, wir basteln Tiere auf Rädern.»
    «Wie schön.»
    «Ich mache ein Mausetier.»
    «Ach.»
    «Für Marmelade. Katzen mögen Mausetiere.»
    «Marmelade ist doch verschwunden.» Er versuchte sich zusammenzureißen, der Junge sollte ihn nicht weinen sehen. «Der kommt aber wieder zurück», sagte Georg überzeugt. Cato Isaksen dachte daran, wie oft er Angehörige aufgesucht hatte, um sie über einen Todesfall zu informieren. Er versuchte, immer ihre Empfindungen zu verstehen, aber er spielte dabei ja doch nur eine professionelle Rolle. Jetzt saß er hier und weinte wie ein Kind, weil er seine uralte Mutter verloren hatte. Seine Trauer war plötzlich überwältigend, bitter, unerwartet und böse. Er schämte sich fast, wenn er an Helena Bjerke dachte. Ein Kind zu verlieren musste das Schlimmste sein, was einem Menschen passieren konnte.   
    Er fuhr dann doch nicht mehr ins Pflegeheim. Er fuhr zurück nach Asker. Er rief unterwegs Bente an und sagte, seine Mutter sei gestorben. Sie erwiderte, sie werde früher Feierabend machen und zu Hause sein, wenn er komme. Er sagte, das sei nicht nötig, aber sie ließ sich nicht beirren.

31
    Seit dem Vortag hatte sie nichts zu essen bekommen. Kathrine kroch auf der Matratze in der Ecke in sich zusammen. Ihre Gedanken schrumpften in der Leere. Sie wusste, dass es draußen warm war, vielleicht war es schon Sommer. Der Tag ruhte ganz still und schwer an der Wand. Ihr Knöchel war an diesem Tag nicht mehr so schlimm. Die Wunde hatte sich entzündet, vielleicht, weil Kathrine sich nicht bewegte. Der Gips war schmutzig geworden, grau vom Staub des Steinbodens. Mitte April hätte er abgenommen werden sollen. Das war jetzt schon lange her.
    Sie konnte die einsame Glühbirne unter der Decke selbst ein- und ausschalten. Sie ließ sie lieber brennen. Das einzige Geräusch, das sie hörte, war das Rauschen der Rohre in dem kleinen Badezimmer. Das Porzellan der Toilette war gesprungen. Von dem verrosteten Hahn, der über dem schmutzigen Waschbecken aus der Wand ragte, sickerte ununterbrochen das Wasser. Sie bekam Bücher und Zeitschriften und kaltes Essen in Alufolie und eingetrocknete Butterbrote, die sie auf der alten Matratze in der Ecke verzehrte.
    Sie konnte sprechen oder denken. Mit dem Sprechen hatte sie in letzter Zeit angefangen, um ihre Stimme nicht zu verlieren. Wenn die nicht benutzt wurde, trocknete der Hals ein und wurde tot und unbrauchbar.
    Sie hatte die Verkleidung sofort durchschaut. Sie hatte sie nicht zum ersten Mal gesehen. Jetzt spielte sie einfach mit. Sie fand das widerlich und albern, aber sie hatte keine Wahl. Anfangs hatte sie geglaubt, es werde nur von kurzer Dauer sein, einige Tage vielleicht oder eine Woche. Aber jetzt wusste sie es nicht mehr, sie hatte schon lange keine Kraft mehr zu hoffen.
    Sie dachte an Omas witzigen kleinen Garten. Wenn der Sommer kam und die Schlüsselblumen verschwanden, blühten in der Hecke am Zaun die Hagebutten. Und wenn der Winter kam, mit rauer Luft und Regen und schweren grauen Wolken, starb alles im Garten. Im November hatte es fast nur geregnet, da hatten Oma und sie die Beete mit Sackleinen bedeckt. Plötzlich hatte der Frost eingesetzt und das Wasser zu einer dünnen Eishaut erstarren lassen. Und die hatte sich wie ein Leichentuch über den grünen Rasen gelegt.
    Wenn sie in der Dunkelheit wach lag und nicht wusste, ob Nacht oder Tag war, hatte sie oft das schreckliche Gefühl, dass sie ihr Gefängnis nie wieder verlassen würde. Um sich von solchen Gedanken zu befreien, schaute sie sich die Illustrierten an, die sie neben ihrem Kopfkissen aufgestapelt hatte. Manchmal fühlte sie sich noch immer stark. Bald musste dieser Unsinn doch mal ein Ende nehmen. Er würde ein Ende nehmen. Dazu war sie fest entschlossen. 
    Ihre kleine Welt war still und einsam geworden. Die grauen Mauern sperrten sie auf allen Seiten ein. Wenn die nun aus Glas gewesen wären! Sie hatte nicht einmal einen Spiegel. Sie hatte darum gebeten, aber keinen bekommen. Sie versuchte auf Geräusche zu horchen. Auf Wind und Regen. Auf Zeichen,

Weitere Kostenlose Bücher