Spurlos in der Nacht
auf die Klinke und zog die hohe Holztür auf. Dann betrat er die kühle Kirche. Es war ganz still. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Er blieb einen Moment stehen, dann ging er langsam durch den Mittelgang. Es war eine schlichte, aber schöne Kirche. Er ging bis zum Altar weiter. Er war von einem Gefühl der Trauer erfüllt. Seine Mutter war tot. Brenda Moen war tot, und Kathrine war tot. Überall auf der Welt mussten Menschen sich ihrer Trauer stellen. Trotzdem waren Menschen, die jemanden verloren hatten, so einsam. Und der Tod war so fremd, beängstigend und unbekannt.
Er war in Gedanken versunken und betrachtete das Jesusbild, als er plötzlich hinter sich eine Bewegung registrierte. Er fuhr herum. Eine Frau von vielleicht vierzig oder fünfzig Jahren musterte ihn neugierig. «Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?», fragte sie mit dunkler Stimme.
Cato Isaksen lächelte rasch. Er war ein wenig verlegen, fühlte sich wie auf frischer Tat ertappt. Trotzdem stellte er sich kurz vor und erklärte, warum er sich in der Kirche aufhielt.
Die Frau, die Hose und Pullover trug, wurde ernst. Sie war die Pastorin, von der Kathrine hätte konfirmiert werden sollen. Sie berichtete von den Vernehmungen bei der Kripo und der Polizei von Folio und bedauerte, dass sie keine hilfreichen Auskünfte hatte geben können. Sie blickte ihn nachdenklich an. «Nachdem die Polizei hier gewesen war, ist mir dann doch noch etwas eingefallen», sagte sie. «Aber ich hielt es für ziemlich unwichtig, deshalb habe ich mich nicht mehr gemeldet.»
Cato Isaksen musterte sie neugierig. Sie zögerte für einen Moment, dann fügte sie hinzu: «Wir haben ja auch Gesprächsrunden mit den Konfirmandinnen und Konfirmanden. Stunden, in denen wir über alles Mögliche diskutieren. Viele gehen ja derzeit zur Jugendweihe, und um nicht noch mehr Jugendliche zu verlieren, haben wir den Unterricht ein wenig umgestellt. Wir reden nicht nur über Gott und Jesus, so wie früher. Und einmal kam die ablehnende Haltung zur Sprache, die die Kirche der Homosexualität gegenüber einnimmt. Die Stimmung war ziemlich gereizt, wenn ich das so sagen darf. Wir haben ja die Schrift, an die wir uns halten müssen, aber die jungen Leute von heute sehen das alles viel freimütiger, und unsere alte Kirche kann damit nicht Schritt halten. Kathrine hat sich an dieser Diskussion sehr eifrig beteiligt. Vor allem, als über Abweichungen im Allgemeinen gesprochen wurde.»
«Ach was.» Cato Isaksen musterte sie gespannt. Einige Sonnenstrahlen trafen eine Glasmalerei, die das Licht durch ihre blauen und roten Glasscheiben filterte, ehe sie es wie eine Säule in den Mittelgang legte.
«Es wurde also über Menschen geredet, die auf irgendeine Weise anders sind», sagte die Pastorin. «Kathrine hat dabei mehr als nur angedeutet, dass sie sich für anders hielt.»
«Auf welche Weise anders?»
«Das weiß ich nicht so recht. Wir waren alle ein wenig neugierig, aber sie spielte die Geheimnisvolle. Ich bin nicht sicher, ob das etwas mit Homosexualität zu tun hatte. Kathrine kam mir ziemlich frühreif vor, wenn ich das so sagen darf.»
Cato Isaksen nickte. Die Pastorin war nicht die Erste, die ein solches Bild von Kathrine zeichnete.
«Ich kam also zu dem Schluss, dass sie etwas über irgendeinen erwachsenen Menschen wusste, womit sie nicht so recht fertig wurde», sagte die Pastorin und schlug die Arme übereinander. «Ich habe damals eigentlich nicht weiter darüber nachgedacht. Aber später nahm ich mir dann vor, noch einmal mit ihr zu sprechen. Ich bin ja daran gewöhnt, dass Jugendliche gern provozieren, aber auf irgendeine Weise hatte ich den Eindruck, dass Kathrine auch von etwas Traurigem belastet wurde.»
«In welcher Hinsicht?»
«Sie war so aggressiv, war eigentlich ein wenig ungenießbar, wenn ich das so sagen darf. Nicht, dass das wirklich etwas Besonderes wäre. Nein, ich weiß nicht», sagte die Pastorin. «Vielleicht irre ich mich ja auch.»
«Maiken Stenberg hat auch am Unterricht teilgenommen, nicht wahr?» Cato Isaksen verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere.
Die Pastorin nickte. «Ja, aber sie ist ein ganz anderer Mensch», sagte sie.
«Aber die beiden waren doch eng befreundet.»
«Das schon. Aber Maiken ist reflektiert und ausgeglichen. Ein reizendes Mädchen, das alle mögen, glaube ich.»
«Gab es viele, die Kathrine nicht leiden mochten?»
«Nein. Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Aber sie konnte ziemlich herausfordernd sein,
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