Spurlos in der Nacht
er noch einmal.
Cato Isaksen gab keine Antwort. «Hattest du nicht eine Frau kennengelernt?», fragte er.
Roger nickte viel sagend. «Sie ist aus Grorud», sagte er. «Soll ich dir von ihr erzählen?»
«Lieber nicht», sagte Cato Isaksen und stand auf.
Eine halbe Stunde später hatte er im Verteidigungsministerium den Schlüssel zu Brenda Moens Wohnung abgeholt. Alf Boris Moen hatte unten in der Rezeption auf ihn gewartet. Es war nicht leicht gewesen, bei der Schlüsselübergabe seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Offenbar war ihm das alles recht gewesen. Aber er hatte auch etwas Zurückhaltendes und Verschlossenes an sich gehabt. Zudem hatte er klar zum Ausdruck gebracht, dass er mit den Ermittlungen unzufrieden war. Cato Isaksen konnte dazu kaum etwas sagen, er konnte nur ein paar Phrasen dreschen, dass sie guten Mutes seien und durchaus noch nicht aufgegeben hätten.
Cato Isaksen fragte sich, warum Alf Boris Moen und Helena Bjerke das Erbe noch nicht geteilt und die Wohnung verkauft hatten. Aber das ging ihn ja nichts an. Vielleicht ging ihnen alles noch viel zu nahe.
Er fuhr nach Ullevål Hageby und hielt vor der Nummer 51. Er schloss die Tür auf und öffnete die Vorhänge, um Tageslicht hereinzulassen. Die kleinen Blätter am Baum vor dem Haus waren grün und frisch. Plötzlich registrierte er in dem überfüllten Raum einen vagen, unbekannten Geruch, scharf und süß. Er sah zwischen den leeren Blumentöpfen auf der Fensterbank einen gläsernen Briefbeschwerer liegen. In den Töpfen lagen kleine Muscheln und Grashalme. Er wandte sich ab, ging zur Schneiderpuppe und legte die Hand gegen den weichen Stoffleib. Er versuchte zu analysieren, was er bei seinem letzten Besuch übersehen haben könnte. Während er sich noch einmal jeden Gegenstand in Brenda Moens Wohnung ansah, rief Sigrid ihn auf dem Handy an. Cato Isaksen nahm an, sie wolle ihn zur Rede stellen, weil er Georg wieder von einem Taxi aus dem Kindergarten hatte abholen lassen. Zur Zeit schien sie dauernd böse auf ihn zu sein. Warum konnte sie nicht einfach mit ihrem neuen Mann glücklich sein?
«Sicher, ich hol ihn persönlich», sagte er deshalb sofort und beteuerte auch gleich, dass er wisse, dass Georg am Wochenende zu ihm kommen würde. Sigrid gab keine Antwort, und plötzlich kam ihm ihr Schweigen seltsam vor. «Bist du noch da?», fragte er.
«Cato, deine Mutter ist tot», sagte sie leise.
Er räusperte sich nervös. Wusste nicht, was er sagen sollte. Er schaute sich in Brenda Moens seltsamem Wohnzimmer um. Er ging zu einem der tiefen Sessel und ließ sich hineinsinken. Sigrids Worte hämmerten sich in sein Bewusstsein. Er konnte nichts sagen. Was hätte er auch sagen sollen?
«Tut mir Leid», sagte sie. «Es tut mir so schrecklich Leid.»
Er schwieg noch immer. Plötzlich stand die Erinnerung aus seiner Kindheit wieder glasklar vor ihm. Als seine Mutter ihn verlassen hatte und der Schal vor seinen Mund geweht worden war. Er hatte das Gefühl gehabt, ersticken zu müssen. Er sah diese Szene immer schwarz-weiß vor sich, wie einen alten Film.
«Ich kann Georg aus dem Kindergarten holen», sagte Sigrid jetzt. «Wenn du im Heim vorbeischauen willst, meine ich.»
«Sie ist doch tot, was soll ich denn da?»
«Sie sehen.»
«Ich will sie nicht sehen», sagte er hart. «Ich hole Georg wie abgemacht ab. Danke für den Anruf.» Dann drückte er auf den roten Knopf und Sigrids Stimme war verschwunden. Er starrte einen Moment lang in die Luft, dann brach er in Tränen aus.
Als er wieder im Auto saß, merkte er, dass er fror, aber empfinden konnte er immer noch nichts. Es war seltsam, dass er nichts empfand. Seine Mutter war soeben gestorben und er empfand nichts. Warum hatten sie Sigrid über diesen Todesfall informiert und nicht ihn? Plötzlich verspürte er einen schwarzen Zorn in sich aufkeimen. Dieser Sache würde er auf den Grund gehen. Aber zuerst wollte er Georg aus dem Kindergarten abholen.
Der Junge winkte ihm vom Sandkasten her zu. «Mach schnell», sagte der Vater ungeduldig. «Wir müssen noch woanders hin.»
«Wohin.»
«Zu Oma.»
«Zu Oma, hurra.»
Cato Isaksen schob seinen Sohn vor sich her zu dem kleinen Kindergartenhaus. Er wechselte ein paar Höflichkeitsfloskeln mit den Angestellten, dann nahm er den Rucksack und die von Sigrid gepackte Tasche und führte Georg zum Auto.
Er schnallte den Sohn auf dem Kindersitz hinten im Auto an und stieg ein. Als er losfuhr, kamen ihm wieder die Tränen. Er kam sich absolut einsam
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