Spurlos in der Nacht
zeigte eine Straßenszene aus der Ortsmitte des kleinen Arjäng, teilte Roger Høibakk erregt per Telefon mit. «Helena Bjerke hat eben angerufen. Sie ist total außer sich und begreift nicht, was das zu bedeuten hat», meinte Roger.
Cato Isaksen stand zu Hause in der Diele. Er hatte eben Georg eine blaue Hose und einen roten Pullover angezogen. Sie wollten für das Wochenende einkaufen. Bente saß im Morgenrock im Badezimmer und las die Zeitung. Vetle schlief noch.
«Helena Bjerke hält es für eine Fälschung», sagte der Kollege jetzt. «Kathrine bittet ihre Mutter um Vergebung.»
«Hast du die Karte?» Cato Isaksen öffnete die Tür und gab Georg ein Zeichen, draußen zu warten. Der Junge versetzte der Tür einen leichten Tritt und drehte sich um, um seinen Vater anzusehen, ehe er verschwand.
«Auf der Karte steht: Liebe Mama. Verzeih mir. Mir geht es gut. Das mit Oma ist traurig, Deine Kathrine.»
Cato Isaksen ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf.
«Helena Bjerke sagt, dass Kathrine niemals so etwas geschrieben hätte», sagte Roger Høibakk.
«Und die Schrift?»
«Die sieht aus wie ihre, sagt sie. — Aber natürlich müssen wir die Karte analysieren lassen.»
«Ich werde sie sofort holen», sagte Cato Isaksen und beendete das Gespräch. Bente stand in der Küchentür und blickte ihn resigniert an. «Was ist denn jetzt schon wieder?», fragte sie.
«Etwas Neues im Fall Kathrine Bjerke. Ich nehme Georg mit», sagte er rasch und lief aus dem Haus.
Helena Bjerke wanderte ruhelos in ihrem Wohnzimmer hin und her. Sie hätte sich am liebsten ins Auto gesetzt, um unverzüglich nach Schweden zu fahren. In ihr kochte der Zorn hoch. Doch er war vermischt mit Furcht und Angst, es könne nicht stimmen, dass Kathrine noch lebte. Denn vielleicht stammte die Karte ja doch von ihrer Tochter, obwohl Helena sie der Polizei gegenüber als Fälschung bezeichnet hatte. Wie konnte das Mädchen einfach so verschwinden, ohne Bescheid zu sagen, ohne mitzuteilen, dass sie noch am Leben war. Diese verdammte Göre! Sie hatte Tage bei der Arbeit angerufen und ihn gebeten, nach Hause zu kommen. Es war Samstag und im Einkaufszentrum war die Hölle los, aber das war ihr jetzt egal. Sie wollte glauben, dass Kathrine noch lebte. Cato Isaksen wollte die Karte abholen. Er nahm sie immer ernst. Konnte dieser verfluchte Tage nicht endlich nach Hause kommen, damit sie sich sofort auf den Weg nach Ärjäng machen könnten! Was hatte diese Pastorin noch gesagt? Alles kommt an den Tag, hatte sie gesagt, als Helena sie wegen der Gedenkfeier angesprochen hatte. Aber aus der würde jetzt natürlich nichts werden. Helena Bjerke sprang mehrere Male auf und setzte sich dann wieder. «Alles wird gut», sagte sie laut. Sie fischte ihre Zigarettenpackung hervor und zog mit zitternden Fingern eine Zigarette heraus, die ihr dann gleich auf den Boden fiel. Sie bückte sich und hob sie hoch, fluchte und steckte sie wieder in den Mund. Das Nikotin beruhigte sie für einen Moment, dann war sie wieder auf den Beinen und lief im Zimmer hin und her. Sie ging am Spiegel in der Diele vorbei und sah ihr Gesicht im erbarmungslosen Licht. Jeden Flecken, jede Runzel. Alle Linien, die in den vergangenen Monaten die Angst in ihre Haut gekerbt hatte. Ihre Miene, verbissen und gequält. «Du Arme», sagte sie laut und brach in Tränen aus.
Die Karte lag mitten auf dem Tisch. Sie war sich sicher, dass es Kathrines Schrift war, aber warum drückte sie sich so seltsam aus? «Das mit Oma ist traurig. Deine Kathrine.» Eine scharfe Gewissheit überkam sie plötzlich und ließ sie laut aufschreien. Wütend drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus. Dann hob sie die Hände an ihren Kopf und bohrte die Finger in ihre Haare. Die Karte kam nicht von Kathrine. Niemals hätte sie das so geschrieben. Sie formulierte niemals so. Falls sie sich nicht verändert hatte. Wenn ihr nicht etwas Entsetzliches zugestoßen war. Vielleicht war sie drogensüchtig geworden, hatte sich eine neue Persönlichkeit zugelegt. Vielleicht hatte sie auch etwas mit dem Mord an ihrer Großmutter zu tun. Herrgott, diese Vorstellung war unerträglich. Der Schmerz jagte durch ihren Bauch. Vielleicht waren aus der Wohnung der Mutter wertvolle Dinge verschwunden, ohne dass es ihnen aufgefallen war. Sie musste Alf Boris anrufen. Als sie zum Telefonhörer griff, waren ihre Hände schweißnass vor Angst.
Cato Isaksen bog von der Straße ab und hielt vor der Garage.
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