Spurlos in der Nacht
und ich habe mich wirklich einige Male gefragt, warum sie überhaupt konfirmiert werden wollte. Einmal sagte sie, es gehe ihr allein ums Geld.»
Cato Isaksen gefiel es, wie die Pastorin sich ausdrückte. Hier stand sie vor ihm und war eine ganz normale Frau. Intuitiv wusste er, dass er mit ihr wohl reden könnte.
«Auf irgendeine Weise kam dann die Sache mit der Kleidung zur Sprache», sagte die Pastorin jetzt. «Sie wissen ja, die Mädchen heute, die ziehen sich an wie Popstars, mit nacktem Bauch und überhaupt. Kathrine war auch bei diesem Thema sehr eifrig dabei. Sie redete sich richtig in Rage, sagte, sie wolle sich auch in Zukunft so anziehen, wie ihr das passte. Eigentlich hat sie sich immer recht erwachsen ausgedrückt.»
«Was hat sie gesagt?»
«Wortwörtlich weiß ich das nicht mehr. Aber es ging darum, dass junge Mädchen das Recht haben müssen, sich herausfordernd zu kleiden — damit sie gesehen werden.»
«Von wem gesehen?»
«Von Männern. So jedenfalls habe ich das gedeutet. Sie sagte, dass es jungen Mädchen gut täte, wenn sie angesehen werden, damit sie danach ihre eigenen Grenzen ziehen können.»
Die Pastorin lächelte ihn an und schaute auf die Uhr. «Tut mir Leid», sagte sie. «Aber ich muss los.»
Cato Isaksen bedankte sich für das Gespräch und sagte ihr noch kurz, wie schön die Kirche sei, dann ging er durch den Mittelgang, öffnete die schwere Tür und stand wieder draußen. Die Wärme schlug ihm entgegen, die Nachmittagssonne hing gelb über den Häusern. Er ging zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinters Steuer. Dort blieb er eine Weile sitzen, um sich die Worte der Pastorin noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, dann drehte er den Zündschlüssel um und fuhr zurück zum Tunnel und nach Asker.
Cato Isaksen musterte die fremden Menschen vor der Kapelle. Er kannte sie nicht, hielt sie aber für alte Bekannte seiner Mutter. Er kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen. Bei seinem letzten Gespräch mit Helena Bjerke hatte sie gefragt, ob er es für angebracht hielte, für Kathrine eine Gedenkfeier zu veranstalten. Ob die Kirche oder vielleicht irgendwer sonst ihr dabei helfen könnte. Cato Isaksen hatte nicht gewusst, was er dazu sagen sollte. Er konnte ihr nicht raten, weiter zu warten. Er glaubte ja auch nicht mehr, dass Kathrine Bjerke wieder auftauchen würde. Daran dachte er, als er die dunkle Kapelle betrat und den mit hellgelben Blumen bedeckten Sarg der Mutter sah.
Er fühlte sich leer und verlassen. Er war erschöpft. Es war eine Erleichterung, dass bald alles vorübersein würde. Gard und Vetle sahen in ihren dunklen Anzügen sehr gut aus. Georg trug einen Matrosenanzug, sein Schwesterchen ein rosa Kleid. Cato Isaksen begrüßte Sigrid und Hamza kurz, dann setzten die beiden sich mit ihrem Töchterchen weiter nach hinten. Er selbst ging mit Georg zur vordersten Bank, wo Bente und die Jungen bereits Platz genommen hatten. Georg summte leise vor sich hin. Vetle beugte sich mahnend zu ihm vor: «Du darfst nicht singen, Oma ist tot», sagte er leise.
«Er ist so klein, das versteht er noch nicht», sagte Gard.
«Doch», sagte Georg. «Oma ist bei Gott.»
Die Trauer über den plötzlichen Tod seiner Mutter hatte seinen Appetit gedämpft. Cato Isaksen hatte an diesem Morgen nichts essen können. Jetzt hörte er, wie sein Magen knurrte. Das war ein seltsamer Gedanke. Hier ermittelte er in einem tragischen Fall, bei dem ein junges Mädchen verschwunden und eine alte Frau ermordet worden waren.
Trotzdem waren es das Verschwinden des Katers und der Tod der Mutter, die ihm Schlaf und Appetit raubten. Eigentlich Bagatellen im Vergleich zu dem, was viele andere durchmachen mussten. Sie hatten am Vorabend darüber gesprochen, er und Bente. Wie natürlich der Tod eigentlich war, aber wie schrecklich er wirkte, wenn man selber davon betroffen war. Sie hatte etwas Kluges gesagt: «Es sind keine Bagatellen, sondern Megatellen», hatte sie gesagt. Bei dieser Erinnerung lächelte er kurz. Megatellen waren große Bagatellen. Das würde er sich merken.
Als die Trauerfeier beginnen sollte, wurde die Tür geöffnet und es kam noch jemand mit leisen Schritten herein. Cato Isaksen drehte sich um und entdeckte Ellen Grue und Roger Høibakk, die lautlos in die hinterste Bank glitten. Und dann kamen die Tränen.
34
Kathrines Karte traf am Samstag, dem 9. Juni ein. Sie war zwei Tage zuvor im schwedischen Arjäng abgestempelt worden und an Helena Bjerke adressiert. Die Karte
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