Spurschaden
Freundeskreis sie in dieser Vorstellung mehr als bestärkt. Und wäre da nicht diese eine Begegnung gewesen, kurz vor dem Einschreiben in der Uni, das Semester hätte erfolgreich beginnen können. Doch es war anders gekommen.
Natürlich war ihr Eintritt in die Ordensgemeinschaft nicht ganz uneigennützig gewesen. Wo sonst hätte sie ein ganzes Jahr Urlaub mit freier Verpflegung und Unterkunft bekommen; wie sonst hätte sie der verlogenen Gesellschaft entfliehen können? Deshalb ein schlechtes Gewissen? Nein, Marie hatte sich selbst nie betrogen. Sie hatte es nie vollkommen ausgeschlossen, dass sie sich am Ende der Probezeit für ein Ja entscheiden würde. Außerdem konnte in zwölf Monaten sehr viel passieren. Vielleicht würde Gott wieder mit ihr sprechen; vielleicht würde sie ihm sogar verzeihen können. Ja, Marie hatte nie aufgegeben, an Wunder zu glauben. Müde schloss sie ihre Augen.
»Geduld, meine liebe Tochter, hab Geduld. Gott hat Großes mit dir vor!« Halb im Schlaf bildete Marie sich ein, ihre Mutter zu hören und glaubte deren Hand zu spüren, die zärtlich über ihr langes schwarzes Haar strich. Die damaligen Worte ihrer Mutter nahm sie nicht zum ersten Mal wahr und sie wusste, dass es nur ein Traum sein konnte. Natürlich genoss sie diese kurzen Momente der Erinnerung, wollte diese so lange wie möglich aufrechterhalten. Doch irgendwie war es heute merkwürdig. Die Hand berührte immer intensiver ihren Kopf – es war mehr ein leichtes Stoßen – und die Stimme klang zunehmend anders; bekannt, aber nicht so wie die ihrer Mutter. Hinzu kam, dass dieses ständige Klopfen an ihren Kopf sie allmählich zu nerven begann. Und so festigte sich ihr Entschluss, den Wachtraum endlich aktiv zu beenden.
Nahezu gleichzeitig mit dem Öffnen der Augen hörte Marie so etwas wie »Doch nicht ins Gesicht!«, und ein schwacher Lichtstrahl blendete sie kurzzeitig. Erschrocken kroch Marie an den hinteren Bettrand, schaute mehr überrascht als geschockt auf die zwei Kinder in ihren hellen Nachthemden.
»Die Tür war nur angelehnt!«, stammelte das eine, »Es hat Licht gebrannt«, fügte das andere Mädchen schnell hinzu. Stille.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburzeltag, Schwester Marie!«, erstotterten schließlich beide.
Nur mit großer Mühe gelang es Marie, Tränen der Überraschung und Freude zurückzuhalten. Da standen sie, wie zwei kleine Engel ohne Flügel, lächelten sie verlegen an. Und Marie saß auf ihrem Bett, die Knie angezogen, ihre Hände davor verschränkt. Unendlich gerührt sprang sie kurz darauf regelrecht auf und drückte ganz sanft erst die eine, dann die andere ihr zitternd entgegengestreckte Hand.
»Esther, Silke, mein Gott, das ist aber lieb von euch! Danke! Habt ihr das ganz alleine geplant?«
Sofort erfolgte ein gemeinsam ausgesprochenes »Ja!«, und während Marie ihnen links und rechts von sich auf dem Bett einen Platz zuwies, fingen die beiden Schwestern bereits voller Begeisterung an zu erzählen.
Viele Minuten später hatten die nächtlichen Besucher – mal nacheinander, mal wild durcheinander – alles ausgeplaudert, was auch nur im Entferntesten mit der Geburtstagsüberraschung zusammenhing, und Marie bemerkte die tiefe Müdigkeit in den Kinderaugen.
»Tausend Dank! Ihr habt mir wirklich eine große Freude gemacht. Doch jetzt bringe ich euch lieber wieder in euer Zimmer zurück. Nicht, dass ihr vermisst werdet.« Marie zwickte beiden Kindern in die Knie und erwartete ein »Wir wollen noch bei dir bleiben!« von ihnen zu hören; was genau so auch eintraf. Allerdings fügte Esther ein »Weißt du, dass wir eine besondere Gabe besitzen?« hinzu.
»Eine besondere Gabe?«
»Ja!«, antwortete Esther. »Allerdings hast du recht, wir müssen jetzt wieder in unser Zimmer zurück, sonst bekommen wir noch Ärger.«
»Sehr vernünftig von euch«, erwiderte Marie. Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann lag ein breites Grinsen in allen Gesichtern.
»Okay … ihr habt gewonnen. Erzählt schon! Was ist das für eine Gabe?« Marie fragte interessiert, obwohl sie annahm, dass das wieder so ein raffinierter Trick der beiden Schwestern war, um etwas länger bei ihr bleiben zu können.
»Wir müssen das noch optimieren, aber wir können das, weil wir Zwillinge sind. Zwillinge können das!«, sprach Silke leise aus.
»Ja, ja. Zwillinge. Das seid ihr wirklich. Das sieht jeder. Aber was könnt ihr denn jetzt? Was ist eure Gabe?« Marie verzog spaßeshalber das Gesicht zu einer bösen
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