Spurschaden
Grimasse.
»Wir können fühlen, was der andere gerade fühlt.« Esther legte ihre Hand auf Maries Knie und schaute sie mit ernstem Gesicht an. So, als hätte sie eben das größte Geheimnis verraten.
»Hmm … also, ich kann das auch; manchmal jedenfalls!« Marie schaute enttäuscht.
»Nein! Ich meine, wenn wir uns nicht sehen. Also wenn Silke in einem anderen Raum ist. Selbst dann kann ich fühlen, was sie gerade fühlt!«
Marie drehte sich zu Silke. »Stimmt das?«
»Ja. Wir müssen nur noch mehr üben. Meine Schwester sagt, wir können auch bald unsere Gedanken übertragen. Das wäre doch super, oder?«
»Gedankenübertragung also … okay.« Marie schaute den Kindern abwechselnd in die Augen und wollte gerade ihre Enttäuschung zum Ausdruck bringen, als sie etwas in dem Blick der beiden Schwestern wahrnahm, das sie daran zweifeln ließ, dass das eben Gesagte nur ein Scherz gewesen war. Marie hatte ein Gespür dafür, wenn jemand sie bewusst anlog. Doch hier und jetzt: Nein. Die beiden Schwestern schienen das eben ernst gemeint zu haben.
»Du glaubst uns nicht, oder?« Esther schmollte.
»Erzähl ihr doch von dieser Zeitschrift, wo das drinsteht!«, forderte Silke ihre Schwester auf.
»Na toll! Ich wusste, dass ich dir nicht vertrauen kann!« Esther stand verärgert auf. »Die Zeitschrift sollte unser Geheimnis bleiben!« Mit vorwurfsvollem Blick musterte sie Silke, die jetzt den Tränen nahe war.
»Hey, bitte! Wir sind doch unter uns. Ich verrate nichts. Versprochen!« Marie zog Esther am Nachthemd zurück aufs Bett, schob sie neben deren Schwester. »Zwillinge sollen wirklich ein ganz inniges Verhältnis zueinander haben. Mehr als reine Geschwister. Ihr seid ja eineiige Zwillinge, das sieht jeder. Da habe ich auch mal einen Bericht gesehen. Also ich glaube schon, dass ihr deshalb was ganz Besonderes seid!« Marie zögerte kurz. »Aber wo habt ihr denn die Zeitschrift her? Ich dachte, bei uns hier gibt es gar keine.«
»Jetzt ist es ja sowieso egal!« Esther stupste ihre Schwester an. »Ich habe die Zeitschrift letzte Woche im Gebäude gegenüber gefunden. Dort, wo die Handwerker gewohnt haben. Ja, ich weiß. Da dürfen wir eigentlich nicht rein.«
»Da ist eine nackte Frau drin!«, kicherte Silke.
»Sünde!«, hauchte Marie entsetzt; schmunzelte.
»Jedenfalls stand da etwas über Zwillinge und unsere besonderen Fähigkeiten! Und das stimmt alles! Ein Doktor hat das bestätigt!« Esther verschränkte verärgert die Arme vor ihrer Brust.
»Also ich halte solche Fähigkeiten durchaus für möglich«, sprach Marie. »Sobald ihr bei der Gedankenübertragung Fortschritte macht, informiert mich bitte; das hört sich schon extrem spannend an. Ich werde mich in den kommenden Tagen mal im Internet zu diesem Thema etwas schlaumachen. Vielleicht lassen sich da einige praktische Tipps finden.«
»Cool, danke!« Esthers Gesicht strahlte. »Siehst du, Silke, ich habe dir ja gleich gesagt, dass das funktionieren kann, und dass Schwester Marie nichts gegen außergewöhnliche Dinge hat!«
Silke wollte sich gerade verteidigen, als Marie den von einem Doktor verfassten Artikel nochmal ansprach. »Habt ihr die Zeitschrift denn mit auf euer Zimmer genommen?«
Sofort erfolgte ein gemeinsam ausgesprochenes lautes »Nein!«, und Esther fügte deutlich leiser hinzu: »Wenn das Heft jemand bei uns finden würde …«, sie hielt kurz den Atem an, »dafür würde uns Pater Johann sicher von der Schule schmeißen!«
»Ja, ganz sicher«, bestätigte Silke ängstlich.
Marie versuchte sich an einem Lächeln und erklärte den beiden Kindern, dass der Pater bestimmt nicht so extrem reagieren würde, dass bestimmte Regeln manchmal hart klängen, aber dennoch einen sinnvollen Hintergrund hätten. Aber sie lobte auch die Vorsicht der beiden Schwestern.
»Wo liegt denn diese Zeitschrift genau? Ihr habt mich da jetzt doch sehr neugierig gemacht. Den Artikel von dem Doktor würde ich gerne lesen.« Marie schaute Esther fragend an.
»Das kann ich schlecht erklären«, antwortete diese. »Dafür habe ich das Heft zu gut versteckt.«
»DU?«, fragte Silke entrüstet und zeigte ganz offen ihre Wut.
»WIR! Entschuldigung! WIR haben die Zeitschrift versteckt! Reg dich doch nicht immer so schnell auf!« Esther verzog ihr Gesicht zu einem Nerv-nicht-Ausdruck, den sie wirklich gut beherrschte, und ihre Schwester schwieg – aber nur für kurze Zeit.
»Wir können die zwei Seiten doch morgen einfach rausreißen. Wir wollten doch sowieso
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