Spurschaden
Geschmackssinn.
Professor Arndt schreckte plötzlich aus dem Halbschlaf. Sein gegen den Oberkörper drückendes Kinn hob sich, der Kopf richtete sich auf. Gezielt verharrte sein Blick auf einem der zahlreichen Computermonitore.
»Diagnosemodus beendet: 0 Fehler« stand da in großen Buchstaben. So wie beim letzten Testdurchlauf und dem davor. Und doch hatte sich etwas verändert. Nicht an der Anzeige – bei Professor Arndt. Es war dieser eine Gedanke, der sich in den letzten Stunden nicht hatte verdrängen lassen. Der Gedanke, dass er der jungen Novizin und den zukünftigen Patienten mehr schuldig war, als einige automatisch ablaufende Diagnoseprogramme zu starten.
»Ich muss es wissen!«, stammelte der Professor wenig später vor sich hin. Erneut vergewisserte er sich, dass die beiden Bücher die Sicherungsknöpfe der Bedienkonsole fest eindrückten. Natürlich fielen ihm sofort mehr als zehn gute Gründe ein, warum sein jetziges Vorhaben grob fahrlässig war; abgesehen davon, dass er hier völlig allein war. Doch er wollte Gewissheit – jetzt! Wie gerne würde er die Schuld auf sich nehmen, darin war er doch so gut. Entschieden und selbstkritisch einen Fehler eingestehen, seinen Fehler. Doch das Diagnoseprogramm fand einfach nichts. Daher führte letztlich alles zu diesem letzten Schritt, wollte er später seinen Kollegen mit reinem Gewissen gegenübertreten: Jemand musste das Gerät von innen begutachten. Ein Selbsttest. Und zwar mit exakt den gleichen Parametern wie bei Marie Kraft.
»Wir wussten beide, dass das irgendwann so kommen würde«, flüsterte er. Die Gesichtszüge des Professors verformten sich zu einem verzerrten Grinsen. Seine Maschine und ihn verband ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das selbst Pater Johann nicht kannte. Ja, auch seinem besten Freund hatte er es verschwiegen. Etwas, das er trotz seiner Offenheit und Selbstkritik niemals preisgeben wollte: Er, der die Maschine durch zahlreiche Anpassungen an Hard- und Software zu dem gemacht hatte, was sie war, hatte Angst vor ihr. Nicht vor dem, was sie machte. Nein. Aber der enge Innenraum; das über viele Minuten lange still Daliegen. Diese völlige Abgrenzung von der Außenwelt. Ja, Professor Arndt hatte seit einem Geschehen in seiner Kindheit eine schwache Ausprägung von Klaustrophobie; in der Fachsprache auch Raumangst genannt.
Unglücklich verfangen unter der eigenen Bettdecke waren es damals scheinbar unendlich lange Sekunden gewesen, in denen er nach Luft ringend, um sein Leben gekämpft hatte. Seine Eltern erfuhren nie von diesem Zwischenfall. Das war etwas Persönliches. Das wollte er ganz allein meistern.
Und so dachten seine Eltern an die natürliche Angst eines Kindes vor der Dunkelheit, wenn sie abends liebevoll über die Hände ihres Jungen strichen. Dass dessen krampfhaft festes Umklammern der Bettdecke einen ganz anderen Grund hatte, konnten sie nicht ahnen. Nein, an eine Bettdecke, die ihr Sohn ganz bewusst weit entfernt von Mund und Nase auf Distanz hielt, dachten sie nicht. Sie glaubten stattdessen an die beruhigende Wirkung des kleinen Nachtlichts, das einen Teil der Bettdecke erhellte.
Der Professor streifte die Uhr vom Handgelenk und zog sich aus. Für einen kurzen Moment traf sein Blick den vorgewölbten Bauch, der die Unterhose perfekt verbergen konnte. Wenig später stand er in Unterwäsche vor dem mit Spezialkunststoff verkleideten mechanischen Meisterwerk, strich zitternd über die runde Öffnung, aus der die Liege herausragte. Er hatte den Countdown großzügig eingestellt. Er konnte die Sache langsam angehen – und ruhig. Jedenfalls wollte er das versuchen.
Die leicht angeheizte Liege empfand er als angenehm warm. Das hörbare Klicken deutete auf letzte Vorbereitungen des Computertomographen hin.
»Was ist da bei der Novizin falsch gelaufen?«, flüsterte Professor Arndt. »Eine Standarduntersuchung. Das war doch erst mal nur die übliche Standardprozedur. Nichts weiter!« Und mit dem langsamen automatischen Einführen der Liege in die enge Röhre stieg die Angst vor dem Eingeschlossen sein; Stück um Stück verschwand sein Körper in der runden Öffnung.
Für einen kurzen Moment spürte er Panik in sich aufkommen. Dann plötzlich nichts mehr. Keine Angst. Kein Ringen nach Luft. Völlig fasziniert lauschte er den unzähligen Geräuschen, die die Maschine von sich gab und ging in Gedanken die Schritte durch, die sein Computerprogramm gerade ausführte. Vergessen war die Furcht vor einem jämmerlichen Ersticken
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