Spurschaden
Schuss aus meiner Dienstwaffe.«
»Sie werden mir immer sympathischer, Herr Kommissar. Ich wärme mich inzwischen etwas auf. An der Pforte können Sie mich dann später rufen lassen. Ich zähl auf Sie!«
26
Die trockene, aber angenehm warme Krankenhausluft umströmte Thomas’ Gesicht. Zügig schritt er voran. Hinter einer halb geöffneten Glasfront saß eine Frau Mitte 40 und lächelte verlegen. »Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Polizeihauptkommissar Schlund. Guten Morgen.« Thomas zeigte seinen Dienstausweis. »Bei Ihnen liegt eine Marie Kraft. Ich müsste kurz nach ihr schauen … mich überzeugen, dass sie hier ist und es ihr gut geht.«
Die Frau am Schalter runzelte die Stirn. »Außerhalb der Besucherzeiten ist das immer so eine Sache.«
»Keine Sorge. Es findet keine Befragung statt. Die Patientin muss nicht geweckt werden. Ich möchte sie nur kurz sehen.«
»Ist sie denn in Gefahr?« Das anfängliche Lächeln verschwand.
»Hoffentlich nicht!«, erwiderte Thomas mit gespielt nachdenklicher Miene.
»Mm … O.K. Ich schaue mal nach. Einen Augenblick bitte.«
»Danke Frau Bruch!«
»Haben wir uns schon mal gesehen?«
»Nein.« Thomas deutete schmunzelnd auf ihren Oberkörper. »Ihr Namensschild! Eine Angewohnheit von mir.«
Frau Bruch kicherte und tat dies in einem Tonfall, der ganz und gar nicht gespielt klang. »Auf diese Schilder schaut doch niemand!« Sie drehte sich wieder zum Computer. »Wie war nochmal der Name der Patientin?«
»Marie Kraft.«
Thomas nahm das schnelle Tippen auf der Tastatur wahr. Dann Stillstand. Eine längere Pause – und wieder der Tastenschlag. Sekunden später hörte er: »Erster Stock, Zimmer 103 … gleich hier im Hauptgebäude.«
»Vielen Dank!«
»Gern geschehen. Ich geb im Schwesternzimmer Bescheid, dass Sie kommen.«
»Danke. Und bis gleich!«
»HALTEN SIE!«
Bereits einige Meter entfernt drehte sich Thomas nochmals zu Frau Bruch um.
»Ich habe hier einen Vermerk … die Patientin soll in die Privatklinik verlegt werden. Ein Termin steht nicht dabei. Vermutlich aber erst in den nächsten Tagen. Erschrecken Sie also bitte nicht, falls das Zimmer leer ist.«
»Danke für den Hinweis!«
Thomas ging zum nächsten Aufzug und öffnete die dicke Winterjacke. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Er war ungewöhnlich aufgeregt und fragte sich, warum. Eigentlich lag das nicht in seiner Natur. Vielleicht war – neben Marie – das eben laut gerufene »Halten Sie!« der Auslöser. Mit diesem befehlsartigen Ausruf verband er nämlich die nervenaufreibende Zeit im Computerraum seiner damaligen Schule. Dort hatten sie auf allen Rechnern ein auf dem Index stehendes Computerspiel installiert. Gut versteckt in einer virtuellen MS-DOS-Umgebung war es nur für Eingeweihte auffindbar. In diesem 1981 erstmals veröffentlichten Third-Person-Shooter schlich man als Gefangener durch ein Labyrinth verschiedener zweidimensionaler Räume, musste unzählige böse Nazis austricksen oder erschießen. Die primitive Pixelgrafik trübte dabei keineswegs den Spielspaß.
An genauere Details konnte sich Thomas nicht mehr erinnern, aber an das »Halten Sie!« der Wachen, wenn man entdeckt wurde. Diese digitalisierte menschliche Stimme übte – abgesehen von den im Spiel verwendeten verbotenen nationalsozialistischen Symbolen – damals einen besonderen Reiz aus. Der Kick, dass man innerhalb des Spiels von Nazis und gleichzeitig außerhalb von einem Lehrer überrascht werden konnte, tat sein übriges. Nichts also für schwache Nerven.
Ein leiser Gong gefolgt von einem stetigen Piepton – die Tür öffnete sich. Auf dem seitlich eingelassenen Bedienfeld leuchtete die Eins. Thomas stieg aus dem Fahrstuhl und betrat den leeren Flur. Konzentriert musterte er seine Umgebung. »Nach rechts also«, sprach er leise vor sich hin und schritt zügig voran. Die Umgebung war ihm vertraut. Er hatte im selben Gebäude fast täglich seinen Vater besucht. Das Erdgeschoss mit der abgetrennten Intensivstation unterschied sich nur unwesentlich von dieser Etage: die gleiche Wandfarbe, der gleiche Bodenbelag. Nur die Beleuchtung schien heute besonders hell.
Hinter einer Flurgabelung kam Thomas zum Stehen. Ein nicht gerade leises Gespräch zwischen zwei Frauen drang aus dem Zimmer direkt rechts von ihm. Das in der Wand eingelassene gläserne Schiebefenster, die angelehnte Tür – es musste das Schwesternzimmer sein. Mehrere Stimmen überschlugen sich und Thomas tat unbewusst das,
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